Kritik

Bilder, die im Kopf bleiben

Ein wichtiges, beindruckendes, bedrückendes Buch
Hamburg

Ein neues Buch von Manfred Wieninger war mir angekündigt worden, von seinem Verlag (Residenz) und ihm selbst. Na endlich, dachte ich, wurde ja auch Zeit – was bei genaueren Hinsehen ein wenig unverschämt von mir war, denn in den vergangenen Jahren hatte Wieninger die Reihe um seinen "Diskont-Detektiv" Marek Miert rasch und regelmäßig Episode um Episode erweitert, hatte ihn bei ungesundem Essen und mit einem unzuverlässigen fahrbaren Untersatz in den krudesten Fällen ermitteln lassen. Jetzt also ein neuer Fall. Nun ja, ließ mich der Autor kurz darauf wissen, ganz so sei es nicht. Genauer gesagt tauche der genannte Marek Miert im neuen Buch nicht auf. Es sei ein der Vergangenheit geschuldetes, ernstes Buch. Ich wusste, dass Wieninger neben den von mir geschätzten Miert-Krimis auch anderes schreibt und veröffentlicht: Gedichte, Feuilletonistisches, Reisereportagen, in großem Umfang vor allem aber wissenschaftliche, oftmals kulturhistorische, kritisch-politisch geprägte Texte zur Geschichte seiner niederösterreichischen Heimatstadt St. Pölten. Kurzum: Ich merkte, dass ihm sein neues Buch am Herzen lag, und neugierig auf Wieningers "andere" Seite ließ ich mir das Buch schicken.

Ich stellte mich also darauf ein, es mit einem ernsten Buch zu tun zu bekommen, und ich tat gut daran. "223 oder Das Faustpfand" schildert das Schicksal jüdischer Gefangener, kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Franz Winkler, 52jähriger Revierinspektor, ist kein überzeugter Nazi. Die Ideologie ist nicht seine, der Partei ist er beigetreten, um seine berufliche Position und seine Familie (Frau und Tochter) nicht zu gefährden. Im Januar 1945 wird er dazu abgestellt, als stellvertretender Postenkommandant in Persenbeug, einer an der Donau gelegenen Kleinstadt in Österreich, Dienst zu tun. Dort ist er nicht willkommen – mit den Durchhalteparolen und dem Gerede seines Vorgesetzten über Endsieg und jüdisch-bolschewistische Elemente kann er nichts anfangen, von den Einheimischen wird er misstrauisch, feindselig betrachtet. In Persenbeug gibt es ein Lager für Volksdeutsche Umsiedler, wobei sich hinter dieser Bezeichnung Mitglieder der Waffen-SS, versprengte oder stiften gegangene Gestapo-Leute und sonstige Partei-Bedienstete verbergen. Als das Eintreffen einer größeren Anzahl jüdischer Gefangener angekündigt wird, macht Lagerführer Fricke deutlich, dass sich Arier und "jüdisches Ungeziefer" auf keinen Fall die Unterkunft teilen würden. Winkler beschließt, die Juden in drei leerstehenden Holzbaracken am Ortsrand einzuquartieren – von Kanonenöfen oder sanitären Einrichtungen kann dort zwar keine Rede sein, aber zumindest hätten sie dann ein Dach über dem Kopf.

Als die ungarischen Juden am 25. April 1945 in Persenbeug eintreffen, sind sie in einem erbärmlichen Zustand: krank oder verwundet, unterernährt, in Lumpen gehüllt und desillusioniert. Sie werden wie vorgesehen einquartiert und mit dem Notwendigsten versorgt – Winkler hofft, so bei der vorrückenden russischen Armee Pluspunkte sammeln zu können. Bewachen lässt er die Gefangenen nicht mehr, sie sind eh zu geschwächt, um fliehen zu können.

Am späten Abend des 02. Mai werden die Gefangenen von Gebrüll geweckt. SS-Männer treiben die arbeitsfähigen Männer aus den Baracken und verkünden, dass sie an Panzergräben zu arbeiten hätten. Die Kolonne verlässt gegen 23 Uhr das Lager, gegen Mitternacht endet der Marsch an einem Graben. Die Männer werden mit Tritten und Kolbenhieben in den Graben getrieben, dann eröffnen die SS-Männer das Feuer – die dann noch Lebenden töten sie mit Kopfschüssen aus kürzester Distanz. Ein kaltblütiges Massaker, das damit endet, dass die Leichen mit Benzin übergossen und angezündet werden. Bei den Bewohnern benachbarter Häuser hat die SS die Nachricht verbreitet, eine Waffenübung abzuhalten, bei der auch scharf geschossen werde. Derart "beruhigt" schlafen die meisten Anlieger nach kurzem Wachwerden einfach weiter. Einige aber auch nicht – so wie Karl Brandstetter, der durch den Türspion Zeuge des in unmittelbarer Nähe zu seinem Haus stattfindenden Massakers wird und einen der Täter erkennt. Nach dem Mord an den Männern wiederholen die SS-Männer das Prozedere mit den Frauen und älteren Kindern, ehe sie anschließend auch die kleinen Kinder und die Alten ermorden. Die, die nicht gehen können, werden in den Baracken ermordet. Insgesamt sterben in dieser Nacht 223 Menschen.

Am nächsten Morgen wird Winkler über die Vorkommnisse der Nacht informiert. Er inspiziert die Gräben und die Baracken und entdeckt in einer verborgenen Kammer, die das Krankenlager zu sein scheint, einen alten Mann und eine Frau, die nicht erschossen wurden. Auch der Lagerarzt, ebenfalls Jude, der zusammen mit Frau und Schwester in einer etwas abseits befindlichen Baracke untergebracht ist, hat die Nacht überlebt.

Alles deutet auf die Tat eines sich auf dem Rückzug befindlichen SS-Kommandos hin. Winkler beginnt mit seinen Untersuchungen. Untersuchungen? Sein Korporal ist erstaunt: eine Tatbestandsaufnahme gegen die SS? Winkler ist sich bewusst, dass er wahrscheinlich der einzige Reichsbeamte ist, der eine förmliche Ermittlung gegen SS-Männer wegen Judenmordes aufzunehmen gewillt ist. Die örtlichen Partei-Funktionäre jedenfalls lehnen jede Zusammenarbeit mit Winkler ab; feist, sarkastisch, allen voran Lagerführer Fricke, der überrascht tut, „warum man sich über ein paar kaputte Juden so aufregt!“ Aber Winkler lässt sich nicht von den Ermittlungen abhalten, obwohl diese unter erschwerten Bedingungen stattfinden: Wie auch die Überlebenden des Massakers hat er Angst, dass sich die Tatsache, dass jemand überlebt hat, längst rumgesprochen haben und das SS-Kommando noch einmal zurückkommen könnte...

"223 oder Das Faustpfand" ist ein wichtiges Buch. Ein beeindruckendes Buch, vor allem aber auch ein bedrückendes Buch – unter anderem weil man es mit dem Wissen zu lesen hat, dass sich Wieninger die in diesem Buch geschilderten Vorkommnisse nicht ausgedacht, sondern ein tatsächlich verübtes, bis heute nicht aufgeklärtes Kriegsverbrechen dokumentiert hat. Akribisch hat er in Archiven gestöbert und dabei Akten gewälzt und Fakten zusammengetragen, die er in einem Roman festgehalten hat, welcher der Wahrheit sehr nahe kommen dürfte.

Manchmal folgt man als Leser den Gedanken und Empfindungen von Franz Winkler, oft aber ist man bei den Opfern; auf dem Todesmarsch, in der Baracke, teilweise auch in dem Augenblick, in dem sie ihr Leben verlieren. Ein hartes Buch über ein dunkles Kapitel der Geschichte, das gottseidank auch helle, menschliche Flecken aufweist; sei es in Gestalt des Mannes, der den marschierenden Gefangenen Brot und Wasser zukommen lässt, sei es in Gestalt der Bauern, die den flüchtigen Überlebenden bis zum Kriegsende Unterschlupf gewähren und ihnen dadurch das Leben retten.

Wieninger führt den Leser erschreckend nah an das Geschehen heran. Durch die Vehemenz der Schilderungen meint man, die im Todeskampf verdrehten Gliedmaßen sehen und den Gestank von verbranntem Fleisch, Körperfett, Haaren und Benzin förmlich riechen zu können. Wieninger zwingt seinen Lesern Bilder auf, die lange im Kopf bleiben werden – die Tatsache, dass man im Laufe der Jahre schon viele Dokumentationen gesehen hat und diese Bilder zu kennen glaubt, vermag daran nichts zu ändern. Der Autor lässt dem Leser keine Chance, die 223 Opfer als bloße Masse wahrzunehmen. Durch die Schilderung einzelner Lebensläufe und Schicksale und deren Verquickung verleiht er ihnen eine Identität und Intensität, der man sich nicht entziehen kann.

Manfred Wieninger
223
oder Das Faustpfand
Residenz
2012 · 250 Seiten · 21,90 Euro
ISBN:
9783701715800

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