Wahnsinnswolken-landschaften
Mit „Juninovember“ liegt erstmals Tagebuchprosa aus dem Nachlaß von Sarah Kirsch (1935-2013) vor. Nachdem „Märzveilchen“(2012) den Zeitraum zwischen dem 10. Dezember 2001 bis zum 22. September 2002 abhandelten, schließen sich die Einträge im vorliegende Bändchen nahtlos mit dem 23. September 2002 an und enden am 28. März 2003. Bereits in ihren früheren Veröffentlichungen „Regenkatze“(2007), „Sommerhütchen“(2008) oder „Krähengeschwätz“(2010) hatte die in Limlingerode geborene Lyrikerin Eindrücke, Träume, Gedanken und Erinnerungen in der ihr eigentümlichen Verfahrensweise festgehalten.
Souverän beherrscht Sarah Kirsch ihr Spiel mit der Sprache. Sie gurrt je nach Bedarf im lässigen Slang und bedient dann wieder in hochgestochener Pathetik romantische Sprachklischees. Was auf den ersten Blick zuweilen schnoddrig wirkt, erweist sich bei näherem Hinsehen als kunstvoll komponiert. Wochentage werden kurzerhand zu Montauk oder Mistwoch verjodelt, Monatsnamen zu Jaguar, Nerz oder Septembrius gewandelt. Wenn Sarah Kirsch zum Friseur fährt, schreibt sie vom „Glatzenschneider“. Die vitale Lust an der Sprache entsprach Sarah Kirschs ungebrochener Lebensfreude.
Kirschs künstlerischen Verarbeitungen beziehen alle Sinne der Wahrnehmung ein. Poesie und Prosa verschmelzen zu poetischen Gebilden. Meisterhaft verstand es Sarah Kirsch, in scheinbar leicht dahinskizzierten Sätzen einen großen Spannungsbogen aufzuziehen.
Seit ihrem Weggang aus der DDR 1977 im Zuge der Biermann-Ausbürgerung lebte Sarah Kirsch in Schleswig-Holstein auf dem Land. Ein ehemaliges Dorfschulhaus in Thielenhemme, Kreis Dithmarschen bot ihr Rückzugsraum und kreative Werkstatt zugleich, zumal Sarah Kirsch sich auch als Malerin ein Namen gemacht hatte. Als Bewohnerin vom Lande liebte sie ihren Garten und die täglichen Spaziergänge: „Wahnsinnswolkenlandschaften in allen Blaus und Graus und Schwarztönen, und violett und weiß und am Nachmittag auch rosa und gölb. Und Drosselschwärme in den blattlosen Pappeln“. In barocken Bildern beschreibt sie Wetterumschwünge. Scheinbar nebensächliche Kleinigkeiten werden von ihr genau registriert. Die Farben der verschiedensten Blumensorten bereichern ihren Alltag ebenso, wie die vielen Tiere, die beobachtet werden: Fischreiher, Fasane vor dem Haus oder eine Bisamratte, deren Bau an Kirschs Spazierweg liegt. Es scheint, als versichere sich die Dichterin ihrer ungebrochenen Daseinsfreude im täglichen Aufschreiben der Dinge um sie herum. Während dem sagenhaften König Midas die Fähigkeit gegeben war, die Dinge durch Berührung in Gold zu verwandeln, werden bei Sarah Kirsch Beobachtungen zu filigraner Poesie.
Das trifft auch für Vorgänge zu, die ihr nicht geheuer oder gar zuwider sind. Tagespolitik und Geschehnisse in der Welt wie die Vorbereitungen zum Krieg im Irak oder die Geiselnahme in Moskau durch tschetschenische Seperatisten blendet Kirsch in ihren Tagebüchern nicht aus. Man unterläge einer eklatanten Fehleinschätzung, würde man Sarah Kirsch als eine unpolitische Dichterin vom Lande abtun. Als Anfang der 1990er Jahre die Zusammenführung der beiden deutschen Akademien der Künste in Berlin beschlossen wurde, winkte sie ab. Gegenüber dem damaligen Präsidenten Walter Jens verwahrte sie sich über ihre Zuwahl. Diese sei „unter waltenden Umständen weiß Gott! keine Ehre. Ich lehne ab. Wird diese Akademie doch in absehbarer Zunkunft eine Schlupfbude für ehemalige Staatsdichter und Zuträger der Staatssicherheit sein“.
Zuweilen sickert die DDR in ihren Tagebuchnotizen auch wieder ein. In einer Art selbstverordneter nostalgischer Wiederbegegnung verfolgt Sarah Kirsch im Fernsehen die miefige Krimi-Serie der DDR „Polizeiruf 110“, um sich sogleich zu gruseln: „Ein richtig ungutes Gefühl kam auf wie in den früheren Tagen, ein Ausgeliefertsein wie ich es im Nachhinein klassifiziere. Molto interessante! Die Handlung ist mir wurscht, ich gucke und gucke, bewege mich über die Flure. Diese speziellen etwas zu kleinen Türen, die schrecklichen Fenstergriffe und Klinken, die hässlichen Balkontüren, die zu kurz genähten Gardinen mit ihren umwerfenden Mustern – alles zu kleen und äußerst geschmacklos“.
Es liegt bei Sarah Kirsch eher eine Form von reflektierter Weltflucht vor, die dennoch nicht bereit ist, sich aus dem großen Geschehen um sie herum auszublenden. Lesereisen geraten ihr immer mehr zu einer Belastung, während die Welt der Künste ihren Reiz behält. Immer wieder berichtet Kirsch von Filmen Aki Kaurismäkis und gibt Auskunft über ihre Lektüre. Mit besonderem Genuß liest sie die Werke des japanischen Meisters Yasushi Inoue.
Sarah Kirschs Fähigkeit, einer alltäglichen Wirklichkeit der Natur ihren geheimen Zauber zu entlocken, bleibt ungebrochen: „Ich hab einen wunderschönen Gartenbaumläufer vom Grünen Zimmer aus gesehen. Wie er in seinen Spiralen um die Ulmenstämme da lief. Und eine Schule Zaunkönige könnte ich sagen, war unterwegs, und drei Schwäne weit hinten in der Landschaft in der Nähe des Brutplatzes hatte ich in mein Feldstecher ja“.
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