Geteilte Verschlossenheit
Wer sich der Moderne nicht andienen möchte oder sie öffentlich zu kritisieren wagt, muß offenbar, wie geschehen, mit einer Breitseite aus dem Lager all der Behaglichen rechnen, und man fragt sich gezwungenermaßen, ob jene, die Gift und Galle über den Kritiseur der Zustände ausschütten, wirklich mit den sogenannten Errungenschaften unserer Zeit vollends einverstanden sind, oder ob die Polemik ihnen nicht vielmehr eine willkommen zugerüstete Gelegenheit für die Selbstdarstellung bietet, die printmedial einen Konkurrenzkampf um stilistische Akrobatik mit dem Autor ausficht. Doch warum zum Teufel, so muß man fragen, soll ein Autor nur (bestenfalls) Mitschreiber der Zeitläufte oder (schlimmstenfalls) Zeitvertreiber eines übersättigten Publikums sein? Warum darf er nicht klar Stellung beziehen, wo doch alle Welt die deutliche Position fürchtet, weil jede Festlegung eine Konsequenz nach sich ziehen könnte? Beliebt ist der lehrmeisterliche Zeigefinger allemal nicht, erst recht in der Literatur, aber das ist meist eine formale Angelegenheit, denn der erhobene Finger tendiert schnell zu Platituden und Verallgemeinerungen. Unbenommen davon ist jedoch die reale Diagnose, vor allem wenn sie derart geschliffen, bildungsvoll und vehement vorgetragen wird wie von Botho Strauß in „Lichter des Toren“.
Das Buch reiht sich, ohne eine Linie zu bilden, in jene Lamentationes über die Gegenwart ein, die mit „Anschwellener Bocksgesang“ (1993, wiederabgedruckt in „Der Aufstand gegen die sekundäre Welt“, 2012) begonnen hatten und mit so unterschiedlichen Werken wie „Beginnlosigkeit“ (1992), „Die Fehler des Kopisten“ (1997) und „Der Untenstehende auf Zehenspitzen“ (2004) fortgeführt wurden. Sie alle sind ein Aufstand gegen die Linie und ein Plädoyer für das Ornament, die Fioritur, den „diffusen Fleck“ —: „ein Verstehen, das sich nicht auflöst, versteht nicht“, hieß es gleichsam programmatisch bereits in der „Beginnlosigkeit“. Die genannten Werke charakterisiert, daß sie sich dem linearen Erzählen bzw. der gerichteten Reflektion verweigern. Umkreisen, Haken schlagen, Schlenker machen, Umwege gehen — das ist die Form der Bewegung. Deshalb handelt es sich bei „Lichter des Toren“ um ein Buch, das — auch dies wiederum programmatisch — für den schnellen Konsum ganz und gar unbekömmlich ist.
„Alles — Rauschwort des Thales wie des Imbezilen“: diese Formulierung findet sich identisch in der „Beginnlosigkeit“ wie in „Lichter des Toren“ und beschreibt eine Wahrnehmungsform, die der Komplexität der Wirklichkeit gemäß ist, die Totalität des Erfassens, das selbst verrauscht. Botho Strauß gibt diesem Alles eine literarische Form, indem er die Linearität aufsplittert, kleine Protuberanzen auslöst, die Perspektive wechselt immer wieder von der ersten in die dritte Person und zurück, es gibt erzählende, berichtende, reflektierende Fragmente, es entsteht ein erzählerischer Sog, der zugleich einer der Maxime, des Notats ist, beiläufig, aus der Not in die Notwendigkeit gesprochen. Er nimmt damit zwar äußerlich eine moderne Haltung ein, jedoch nur, um sie mit anderem Anspruch zu füllen — die Summe der Splitter ist das All, aber eben viel-seitiger.
Es soll an dieser Stelle weder darum gehen, die Argumentation affirmativ zu diskutieren oder dem Autor womöglich einen Irrtum nachzuweisen. Der Begriff „Zeitkritik“ mag negativ konnotiert sein, doch das griechische Verb krinein meint nicht nur das Beurteilen, sondern auch das Sichten und Auswählen; der vom Ungenügen angespornte Zorn des Autors — milder: die Enttäuschung — sichtet die Zeit und stellt die Diagnose eines defizitären Zustands. Nicht allein um das, was falsch ist, sondern vor allem um das, was verloren ging, ist es Botho Strauß getan. Oder vielleicht sogar um das, was es niemals gab: nicht Realitäten werden da beschworen, sondern eine Projektion aus dichterischer Imagination. „Der Reaktionär läßt, was niemals war, geschehen sein. Er verklärt als der echte Epiker das Gewesene, um es jederzeitlich zu machen. [...] Der Reaktionär ist Phantast, Erfinder (der Konservative dagegen eher ein Krämer des angeblich Bewährten).“
Unter den vielen Aspekten, unter denen man die „Lichter des Toren“ betrachten kann, ist der augenfälligste weder der geschichtsphilosophische noch der literaturbetriebskritische, es ist die heutige Gestalt der Kommunikation, die „Rattenplage der Kommunikation“, die zum Symptom des Unverstands und der mangelnden Erkenntnisfähigkeit, womöglich gar Erkenntnislust führt. Die Rede des Inhalts ersäuft im Datenstrom. Die Banalitäten werden nur noch recycelt. „Die Geste am Ausgang der Neuzeit ist das Handy am Ohr (oder der einsam vor sich hin Quatschende mit Headset, die getreue Kopie des Idioten).“ Der Sprechende indes lebt, anders als der bloß Kommunizierende, nicht außerhalb seiner Zeit, er nimmt sie genau wahr, lehnt sie aber ab. Nun ist Strauß vorgeworfen worden, seine elitäre Haltung sei längst wieder mehrheitsfähig. Doch eine solche Behauptung verharrt in vollkommener Unkenntnis der Massen, für die ein solches Abseitshalten allemal nicht akzeptabel wäre. Als Kronzeugen ruft Strauß immer wieder solche auf, die ebenfalls quer in ihrer Zeit standen, diese aber genau durchschaut haben; den Vielzitierer an dieser Stelle zu zitieren fiele nicht schwer, doch ist alle Auswahl nur unbotmäßige Verkürzung des Zusammenhangs. Vielleicht fehlt hier zuweilen der Furor früherer Ausbrüche, denn Strauß ist zwar pessimistisch geblieben, aber auch milder (nicht im Urteil, wohl aber in der Haltung), und so ist es poetisch konsequent, daß der letzte der vierzehn Abschnitte, der kürzeste, auch der schlichteste ist: „Keine Sehnsucht. Keine Gewißheit. Eher eine Blumenexistenz: einfache Öffnung zum Licht. / Ohne Erwartung auf das Ende. Vom Unabsehbaren gewärmt. / Heiterkeit der Abstinenz wird die vorherrschende Laune des Idioten sein. // Und so redet er immer noch wie ein Angesprochener.“ Wenn man Botho Strauß ohne ideologische Schubladen oder Scheuklappen liest, entdeckt man zwingende, bedenkenswerte Einsichten und ist glücklich über deren konzise Formulierung, die manchmal verschlossen daherkommt, aber immerhin (mit-)geteilt.
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