Eine Gegenwartslyrikerin
Vor einigen Wochen erschien in der Frankfurter Anthologie, die nicht mehr von Marcel Reich-Ranicki redigiert wird, sondern von Rachel Salamander, ein Gedicht von Ulla Hahn, kommentiert von ihr selbst. Überschrieben ist das Gedicht, das 1983 im Band „Spielende“ erschien, mit „Nach Jahr und Tag“, und es assoziiert die Szenen der Vernichtung in den KZ der Nazis mit alltäglichen eindrücken: einem Zug, der vorbeifährt, mit der Trennung von Männern und Frauen bei den Umkleidekabinen des Freibades, den Schuhhaufen beim Sommerschlussverkauf und schließlich dem aufsteigenden Rauch.
Der Text ist eine sprachliche Miniatur, zurückhaltend gebaut, nicht überladen, sondern reduziert in seinem Aufwand, eine zentrale Erinnerung hervorzubringen, die an ein Verbrechen, das Seinesgleichen in der Menschheitsgeschichte nicht hat und nunmehr untrennbar mit dem Deutschen verbunden ist. 14 Zeilen, in Paaren gebündelt, ungereimt und beinahe beiläufig provozieren sie Bilder, die in den alltäglichen Kontext, den sie an der Oberfläche generieren, nicht zu passen scheinen. 14 Zeilen, in denen, als Hintergrund, die Vernichtungslager des Dritten Reiches aufscheinen.
Hahn berichtet in ihrem Kommentar allerdings von den primären Reaktionen auf diesen Text, dem eben nicht die Ungeheuerlichkeit des Ereignisses, auf den er verweist, zugeschrieben wurde, sondern dem vorgeworfen wurde, gerade dieses Ereignis zu verharmlosen.
Nichts könnte mehr in die Irre gehen, zumal die Differenzen zwischen dem Alltag der hedonistischen deutschen Nachkriegsgesellschaft, deren zentrales politisches Moment der Bezug zum monströsen Phänomen Holocaust ist, nicht so groß sind, wie es notwendig schiene.
Gerade die Alltäglichkeit der Szenerie demonstriert, dass die Nachkriegsgesellschaft sofern der Gesellschaft im NS-Regime nicht ist – so ungeheuerlich das auch scheinen mag. Die Normalität des Bösen, resp. die Nähe des Extremen zur Normalität ist ein Skandalon, dem sich jede Gesellschaft zu stellen hat.
Erkennbar ist in diesem kleinen und sehr frühen Text, der sich in den im vergangenen Jahr erschienenen „Gesammelten Gedichten“ wiederfindet, das Konzept Ulla Hahns. Es sind eben keine autobiografischen Texte, die sich hier finden, sondern sprachliche Kunstwerke, die in verdichteter Form die Wahrnehmung dieses Subjektes und seine Verarbeitung von Realität erkennen lassen und sie dabei anschlussfähig für eine allgemeine Rezeption machen.
Dieses doppelte Moment zeichnet ihre Gedichte aus und bestimmt auch die Lesart jener Texte, die sich in der Lektürekonvention gern als persönlich ausgeben lassen.
Im Vorwort der „Gesammelten Gedichte“ hat Ulla Hahn dieses allgegenwärtige Thema aufgenommen und demonstriert, dass das lyrische Schreiben vielleicht subjektiv motiviert ist, aber in seiner sprachlichen Verfasstheit das Subjekt hinter sich lassen muss, um kommunikativ sein zu können.
Dazu gehört eben auch ihre Antwort auf die Frage, ob Literatur vor allem schön oder vor allem moralisch sein muss – eine moderne Übersetzung des angeblichen Widerspruchs zwischen Gefallen und Nutzen, zwischen Inhalt und Form. Genauso gut, antwortet Ulla Hahn, könne man fragen, ob man lieber essen oder atmen wolle. Dass beides sein muss – diese Antwort erübrigt sich. Obwohl gerade Hahns letzte Gedichte moralischer daherkommen als ihre früheren.
Oder eben nicht. Denn Hahns Gedichte provozieren den Vorwurf (der als Lob gemeint ist), dass sie vor allem persönlich sind, was allerdings für die Ignoranz solcher Leser spricht. Es sind Liebesgedichte, alltägliche Beobachtungen, kleine Texte, die sich im Augenblick bewegen.
Insofern zeigen diese Gedichte, die einen Zeitraum von über dreißig Jahren umgreifen, und diese Gesammelten Werke, in denen sich zehn Gedichtbände wiederfinden, eben auch die Zeiten, in denen sie geschrieben wurden. Die Tonlage ändert sich, was auch anders verwunderlich wäre: Sätze wie „Ihr könnt mich mal / mir hängt mein Grinsen / schon längst zum Maul raus ich / geh lieber in die Binsen“ (so in „Ihr Kampfgenossen all“ aus dem 1981 erschienenen Band „Herz über Kopf“) finden sich später nicht mehr.
Das ist uns in seiner Schnoddrigkeit fremd geworden, dabei haben auch diese Jahre und diese Gedichte ihre hohen Töne – die nicht minder fremd sind: Texte wie „Endlich emanzipiert“ mögen dabei unverschämt sein, aber hier findet sich jener schwingende Sound, den die siebziger und achtziger Jahre manchmal noch aufklingen lassen.
Aber provozieren wird sie nun doch, wenn man ein Gedicht denkt wie „Gibt es eine weibliche Ästhetik“ aus demselben Band: „Ich sehe deine Augen / mit den hängenden / Lidern am Kinn / Fettfalten die Stirn“ – in diesem Stil geht es weiter, mit dem Ziel: „ich / denke du bist / von allen Männern / der schönste.“ Das diskreditiert alle Reflexionen über eine weibliche Ästhetik, was man kritisieren mag, aber das geschieht eben auch mit gutem Grund (et vice versa), denn in der Wahrnehmung ist nichts beschönigender als die eigene.
Kind dieser Zeit zu sein, heißt freilich nicht, ihr vollständig verhaftet zu bleiben.
Das poetische notwendige Verfahren der Entfremdung des Sujets von der Vorlage hat Hahn nun ihrerseits nicht nur betont, sondern auch literarisch verarbeitet. In dem 1985 erschienenen Band „Freudenfeuer“ findet sich ein (erneut) kleiner Text, in dem der „Poetische Vorgang“ (titelgebend) reflektiert wird.
Dieses Mal in dem Verhältnis der Liebenden zum Geliebten und den Möglichkeiten, dieses Verhältnis im Gedichte aufzunehmen: Die Differenz zwischen dem intimen „du“ und dem distanzierten „er“ mag dabei auf den ersten Blick das Distanzierungsverfahren demonstrieren. Der zweite Blick zeigt jedoch, dass die Literarisierung selbst Basis der Distanzierung ist, die dann erst die Möglichkeit gibt, den Text als das wahrzunehmen, was er ist, eine sprachlich kondensierte Reflexion, in diesem Fall der Poetisierung alltäglicher Verhältnisse: „Als ich du sagte / weil er schlechter klang / machte ich dich unsichtbar.“ Das, „was wirklich geschah“ ist eben die Kreation einer Wirklichkeit zweiter Ordnung, die für andere affizierbar und rezipierbar wird. Denn was gehen uns die persönlichen Verhältnisse von Frau Hahn an? Nichts, außer wenn sie spezifische Verhältnisse reflektieren. Eine „Meisterin des Liebesgedichts“ zu sein, wie Dorothea von Törne im Nachwort Ulla Hahn attestiert, heißt eben auch, von sich absehen zu können. Soll eben auch heißen, eine Meisterin der Gegenwartslyrik sein zu wollen.
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