Denken im Gehen
Nietzsche bedauert irgendwo, dass die Menschen heutzutage nicht einmal mehr stehenbleiben, um zu denken. Damit übergeht er aber die Verflechtung von Denken und Bewegung.
Valérys Monsier Teste und Brechts Herr Keuner und sind vielleicht die Prototypen einer literarischen Gattung, die einen Helden in Kurztexten (Kalendergeschichten) durch die Welt flanieren lassen, um über allerlei Dinge nachzudenken, zu referieren oder auch nur zu beobachten. Introspektive und Außenwahrnehmung halten sich dabei die Waage. Keuner und Teste haben natürlich über die Jahre Kollegen bekommen, Gestalten, die an anderen Rändern der Welt oder in anderen Hirngegenden herumstreunen, sich wundern und Antwort geben. Jüngst trat ein gewisser Henrici dazu. Dieser Henrici ist das Alter Ego des Züricher Komparatisten Hans-Jost Frey.
Man kann sagen, dass Frey zum Universum zählt, dass sich in den letzten zwanzig Jahren um den Verlag Urs Engeler Editor gebildet hat, und das sich jetzt als Roughbook Reihe erweitert. Henrici jedoch ist noch unter dem alten Label in alter Reihenausstattung erschienen. Ein Privileg, das eigentlich, wie ich das beobachte, nur noch dem jungen Schweizer Autoren Arno Camenisch zukommt.
Aber Hans-Jost Frey steht, da er jetzt einen Prosaminiaturenband herausgebracht hat, geradezu symptomatisch für die Ausrichtung des gesamten Projekts, das er in der Geschichte Das Fundament kurz umreißt. In diesem Text taucht der Verleger höchst selbst auf, um zu verkünden: „Unser ganzer Fundus ist ausschließlich mental, allerdings mehr ornamental als instrumental, und weniger monumental als experimental.“
Was also Frey hier dem Verleger in den Mund legt, kann so auch für seine eigenen Texte gelten und nicht nur für seine Kurzgeschichten um Henrici. Freude an Sprachspielerei bis hin zu kalauernden Nebensätzen wechseln sich ab mit (jetzt kommt das schwierige Wort, das zu ersetzen mir bisher nicht gelang) tiefgründigen Gedanken.
Zuweilen spießt Henrici auch idiomatische Wendungen auf, um sie in ihrem Wortsinne Ernst zunehmen. Er unterläuft so zuweilen auf geradezu halsbrecherische Weise den Common Sense. Macht ihn so aber auch überhaupt sichtbar. Meist bestimmt das Gehen die Denkbewegung, die Welt aber wird von den durch die Bewegung formierten Gedanken reformuliert. Eine Rekonstruktion eigener Art:
Während Henrici im Wald spazierte, dachte er darüber nach, dass viele seiner Bekannten behaupteten, beim Spazieren besonders gut nachdenken zu können, und dass sich ihm beim Gehen im Gegenteil die Gedanken zu verwirren pflegten.
Aber Verwirrung und Klarheit finden sich in den Texten von Henrici auf eine sonderbare Art zusammen.
Und wenn ich dieses Buch hier empfehle, dann nicht, ohne auch auf die anderen Frey-Texte zu verweisen, vor allem auf den Band Vier Veränderungen im Rhythmus, der das Motiv von Denken und Bewegung auf eine ganz andere wissenschaftliche Art aufnimmt und gerade deshalb so etwas wie einen Komplementärtext abgeben könnte. Im darin enthaltenen Essay Der Gang des Gedichts heißt es:
So ist das Gehen einerseits eine Bewegungsform mit einer gleichbleibenden und beschreibbaren Struktur, andererseits wird es je nach der Situation und Verfassung des Gehenden unterschiedlich gestaltet und erfahren.
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