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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Portrait des Dichters als Keith Richards

Hamburg

Der neue Gedichtband von Helmut Krausser, "Verstand & Kürzungen" kann getrost mit einem Auftritt der Rolling Stones verglichen werden. Will sagen: Für beides spricht das lustvolle Abfeiern eines (unterschiedlichen, aber) sehr bestimmten Daseinsgestus, das in dieser Weise ermöglicht wird durch souveräne Formbeherrschung. Diese äussert sich vor allem darin, dass wir nichts von den hohen technischen Anforderungen der einzelnen Gebilde an ihre Urheber zu spüren bekommen. Für beides, Stones-Konzert und Kraussers Band, spricht weiters, dass dieser jeweilige Gestus so, wie er dargeboten wird, geeignet ist, Sauf- oder Beischlafgemeinschaften zu stiften und latente Sehnsüchte zu kitzeln, ohne, dass dieser solchen Funktionalität (hat da jemand "Ingenieur der Seele" gesagt?) in allzu vielen Fällen das sogenannte "Künstlerische" geopfert würde. Für beides spricht mit einem Wort, dass es ordentlich rockt. Gegen beides aber spricht dieser unangenehm penetrante Dunst der Zwangsvirilität, wie er Berufsrockern über Fünfzig und ihren Hervorbringungen eben anzuhaften pflegt (und der Rezensent gibt an dieser Stelle auch gerne zu, die Frage "Beatles oder Stones?" allzeit dezidiert mit "Beatles!" zu beantworten).

Über Gelungen- oder Nichtgelungensein jener Gedichte oder Gedichtgruppen in "Verstand & Kürzungen", für die Krausser alleine verantwortlich zeichnet, braucht hier wenig geschrieben zu werden. Sie leisten, was sie sich jeweils vornehmen; oft leisten sie mehr; wo nicht, bleiben einem zumindest die überraschend originellen Kalauer im Gedächtnis, die Krausser seinen Stoffen entlockt. Hervorzuheben ist Kraussers Fähigkeit, mit klassischen Formen wie dem Sonett noch etwas anderes anzufangen als bloß den selbstthematisierenden Beweis, sie wirklich zu beherrschen.

Kraussers Gedichte verunglücken selten, und wenn doch, dann nicht der "Mache", sondern des absichtsvoll ins Werk gesetzten Inhalts wegen (siehe oben: Zwangsvirilität). Mithin kann selbst in jenen Fällen von objektivem "Verunglücken" eigentlich gar keine Rede sein, bloß vom subjektiven Nichtgefallen des Rezensenten. Ohne weiteres sind Leser vorstellbar, vermutlich sogar in der Mehrheit, denen gerade jene Texte in "Verstand & Kürzungen" gefallen, die mir so nicht gefallen wollen - sagen wir, um im Stones-Gleichnis zu bleiben: Texte, die das poetische Äquivalent zu Rocksongs über den Touralltag darstellen, nebst zwei-drei allzu dick aufgetragenen Selbstinszenierungen als räudiger, läufiger, aber aggressiv-charmanter Hund. Der Grund allerdings, warum diese Texte mir missfallen, ist nicht, dass der Autor - wie er selber es in eines jener Gedichte hineinschreibt - eine "Populistensau" wäre und mich etwa mit unterkomplexen, "vitalistischen" Gebilden verärgerte.

Wohlverstanden: Er ist ein Populist, noch dazu von jener Sorte, die sich darauf was einbildet. Doch das allein sei ihm gern vergönnt, denn Unterkomplexität kann ihm nicht vorgeworfen werden. Das Problem ist nicht sein Vitalismus, sondern es ist die Langeweile, die die Behauptung dieses Vitalismus auslöst, wenn sie, dem Stones-Song aus dem Radio einer leeren Werkskantine gleich, sozusagen im Nichts hängt. Klar: auch Brecht, Müller, Brinkmann, selbst noch Hesse (!) haben beispielsweise Gedichte über das rücksichtslose Verlangen nach dieser oder jener Gespielin geschrieben, aber doch nicht, wie hier, um im Wesentlichen nur auszusagen: Seht her, ich kann noch; will noch; kriege das auch noch ab, was ich will!

Was Krausser selbst als das "Populistische" seiner Texte zu erscheinen scheint, wenn ich ihn richtig lese - erstmal einfach die lautere Bemühung um einen möglichst direkten Draht zu Lesern ausserhalb dessen, was in den vorliegenden Texten wenn, dann als versnobtes, blutleeres Bildungsbürgertum vorkommt - ist weder problematisch noch wirkt es sich nachteilig auf die Gebilde aus. Es trägt eher positiv zu ihnen bei. Ärgerlicherweise dagegen macht sich bemerkbar, dass diese Bemühung sich als zur Schau getragene Arroganz gegenüber jenem Popanz der "blutleeren Spießer" in den Texten niederschlägt - und auch fortschreibt in den anderen Teil des Buchs, der nicht mehr nur aus Kraussers höchst eigenen "Neuen" und "Bonus-" Gedichten besteht.

Ich habe ja oben geschrieben, ich bezöge mich zunächst mal nur auf jene Gedichte, "... für die Krausser alleine verantwortlich zeichnet". Das war nötig, weil der Band auch die Kapitel "Coverversion bekannte Gedichte" und "Die 33 besten Sonette Shakespeares, übersetzt von Helmut Krausser" enthält. Und da wird's haarig.

Spreche ich Krausser das Recht ab, mittels seiner prägnant verkürzenden, kenntnisreich zwischen den Zeitaltern vermittelnden Nachdichtungen das Seine zur Rezeption von Shakespeare, Trakl, Rilke, Hölderlin, Catull et al. beizutragen? - Natürlich nicht. Halte ich die Ergebnisse seiner Übersetzungs- und/oder Nachdichtungsarbeit für an sich qualitativ minderwertig? - Nicht durchgängig, nein. Manche wirken zugegebenermaßen wie Karikaturen ihrer Vorbilder, aber manche anderen treffen was, retten einen verlorenen Zungenschlag, eine Bedeutungsebene, eine Pointe, und machen dabei richtig Spaß.

Aber: Wenn ein Autor in den Anmerkungen und Vorbemerkungen zu seinen eigenen Coverversionen von fremden Texten Dinge schreibt wie die hier:

"Einzig zu befragen ist seine Länge. Gekürzt um alle vielleicht rhetorisch sinnvollen Redundanzen, stellt sich die Frage, ob es in der abgespeckten Version nicht ebenso erfolgreich gewesen sein könnte." (Über Celans Todesfuge)

"Ein nahezu perfektes Gedicht. Es bleibt Ansichts- bzw. Geschmackssache, ob man die behäbigere fünfhebige Originalversion, die dem trägen Gang des Panthers eher entsprechen mag, der vierhebigen vorzieht, die dem Tier mehr Spannkraft und Geschwindigkeit verleiht. Für mich war ausschlaggebend, daß überhaupt eine gedrängtere Version ohne entscheidenden Substanzverlust möglich ist, was ich bei der Arbeit nicht unbedingt vorausgesagt hätte." (Über Rilkes Panther)

"Auch hier wurde eine als sakrosankt gehandelte Vorlage angegangen, mit recht interessantem Ergebnis, wie ich finde. Inhaltlich wurden neue, musikalischere Schwerpunkte gelegt, die Coverversion wirkt meiner Meinung nach stringenter, indem sie auf einen anderen, hymnenhafteren Fokus zielt. Wörter wie 'Blütenschimmer' sind heutzutage angreifbar und ersetzungsbedürftig, (...)" (Über Eichendorffs Mondnacht)

"Meine Version besitzt ein pathetisches Surplus - und rückt das Original auf eine metaphysische Ebene, lockert seinen Duktus auf, ohne es radikal zu modernisieren." (Über Mörikes Um Mitternacht)

- dann erblicken wir in der Kunstfigur des gut erhaltenen Altrockers, die Krausser den ganzen Band über durchgängig gibt, das Kippbild des autoritären Machtmenschen, der nicht anders kann als sich die vorgefundene Welt mit apodiktischer Geste (wenn auch, das müssen wir anerkennen, reflektiert-apodiktischer Geste) gleichzumachen. Damit bleibt, wie Krausser über Texte spricht, weit hinter dem zurück, wie seine Texte (inklusive jener Nachdichtungen) sprechen.

Helmut Krausser
Verstand und Kürzungen
Dumont
2014 · 224 Seiten · 22,99 Euro
ISBN:
978-3-8321-9618-9

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