Wahrheit. Lüge. Aufrichtigkeit. Betrug. Macht. Widerstand.
Ab und zu ist es gut, sich an Dinge zu erinnern, die man schon mal gewußt hat. Weil Erkenntnisse sich gern verlieren zwischen Alltagstrott und Neuigkeitenhype. Deswegen ist es jetzt, wo wieder vielerorts Menschen zu wissen meinen, was für andere Menschen gut ist – man kann wahllos in die Nachrichten greifen dafür, es beginnt bei den Flüchtlingen und hört mit der EU nicht auf – begrüßenswert, daß der Hanser-Verlag Herta Müllers Essay-Band »Hunger und Seide« noch einmal neu aufgelegt hat. Er versammelt Texte aus den Jahren von 1990 bis 1995 und ist in seiner Gesamtheit eine konzise Abrechnung mit der sozialistischen Diktatur in Rumänien. Mehr noch: mit allen sozialistischen Diktaturen. Ach was: mit allen Diktaturen.
Oder schlicht: mit jeglicher Form von Intoleranz. Denn das Buch spießt auch die schmierigen Seiten in (West-)Deutschland auf, etwa daß Bundesbürger Herta Müller nach ihrer Ausreise aus Rumänien gesagt haben, sie sei ja keine Ausländerin (im Gegensatz zu Asylbewerbern), sie sei doch Rumäniendeutsche. Müller nennt das »hinterhältige Güte«. Schreibt, daß die Leute in Rostock-Lichtenhagen Asylbewerberhäuser angezündet haben, weil sie sich und ihren Status als Deutsche zweiter Klasse in den Flüchtlingen wiedererkannt hätten. Und aus dem, was man nicht sehen wolle, entstehe Haß.
Das schmale Buch ersetzt viele dickleibige Geschichtswissenschaftsschinken. Und es ermuntert jeden, selbst zu denken, auch wenn man nicht zu den direkt Betroffenen zählt: »Man muss in keiner Diktatur gelebt haben, um über sie zu urteilen«, schreibt die Literaturnobelpreisträgerin.
Zum Beispiel kann man eine Meinung zu all den Utopien haben, die die Welt bevölkern. Und gern auch eine kritische:
»Die Ideologie des Sozialismus war eine angewandte Utopie. Die angewandte Utopie ergab eine Diktatur. Jede Utopie, die das Papier verlässt und sich zwischen Menschen stellt, uniformiert die nackte Unzähligkeit der Versuche, ein Leben zu finden, das man aushält.«
Und weiter:
»Leute, die in einer angewandten Utopie nie gelebt haben, sagen mir heute schon wieder, der Sozialismus war nicht der Sozialismus gewesen. Es war angeblich etwas ganz anderes, was so viele Menschen im Namen einer Idee gedemütigt, beschädigt, zerbrochen oder getötet hat.«
Herta Müller bringt ein schönes Beispiel dafür, daß Menschen verschieden sind, verschieden sein müssen, daß alle Gleichmacherei nur fehlgehen kann:
»Bei der Handschrift in der Schule lässt man die Verschiedenheit gelten, dachte ich mir. Alle haben nach den gleichen Buchstaben schreiben gelernt, alle von einem einzigen, gleichen Muster. Sobald die Schrift wie von selber aus der Hand kam, schrieb jede Hand den gleichen Buchstaben anders. Ein Leben, dachte ich mir, ist eine Handschrift. Wieso lässt man diese Verschiedenheit im Denken nicht zu. Wieso gibt es nur eine vorgeschriebene ‚Zukunft‘ und ein vorgeschriebenes ‚Glück‘ für alle.«
Wir lernen viel in diesem Buch. Wie es damals in Rumänien war, wie es heute (teilweise) noch ist; wie Krieg in den Köpfen und in den Herzen und in der Realität aussieht; zu welchen verrückten Ideen der Hunger nach Besitz führt; wie abschätzig die Welt die Zigeuner behandelt (und daß es durchaus zur Abschätzigkeit dazugehören kann, sie nicht »Zigeuner« zu nennen). Es geht um Wahrheit und Lüge, um Aufrichtigkeit und Betrug, um Macht. Und um Widerstand.
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