Mit jeder Minute, die wir auf den Rettungswagen warteten, schnürte sich der Brustkorb mehr zu. Wurde Eisenkorsett. Man hatte mich ins Hinterzimmer gebracht, halb Lager, halb große Garderobe, in dem ein Sofa stand. Können wir etwas für Sie tun, können wir Ihnen etwas bringen? erkundigte sich eine der beiden Damen leise. Ein Glas Wasser? flüsterte ich und versuchte mich lang zu machen, zu entspannen, aber wie soll man sich entspannen, wenn einem das Herz durch die Brust knallt.
Der Hund hockte vor mir auf dem Boden und beobachtete mich, er wusste nicht, was los ist. Auch die Mitglieder der Gemeinde, zwei Frauen und ein Mann, um die sechzig alle, evangelisch, adrett, waren ratlos. Da wankt an einem Vormittag im Mai im Souterrain der Stadtkirche ein Mann mit Hund auf sie zu, weil ausnahmweise die Hintertüre offen steht. Der Mann ist fahl, der Schweiss pläddert an ihm herunter, als käme er direkt aus der Sauna.
“Ich glaube, ich hab einen Herzinfarkt..”, spricht er sie an, mit kläglicher dünner Stimme, “können Sie den Notarzt rufen?”
Dann warteten wir. Ich auf dem Sofa, halb hingeschlagen und dem Tod so nah, ich konnte schon rüberspucken, der Hund auf dem Fußboden, die drei Gemeindemenschen halb im Zimmer und halb auf dem Flur, um die Ambulanz nicht zu verpassen. Ich wurde mit jeder Minute schwächer, es war, als rutschte ich Stück für Stück aus dem Bild. Und doch war da eine warme Hand, die sich unter meinen Körper schob, mich sachte aufschaufelte.
Als ich die Kirche Minuten zuvor über den Hintereingang betreten hatte, liess ich mich zunächst auf einer langen, im Dunkel liegenden Holzbank nieder. Niemand war zu sehen. Stille. Ich hätte mich in der Fußgängerzone an jeden x-beliebigen Passanten mit Handy wenden können, damit er den Rettungswagen ruft, doch ich war ein Sterbender, der Schutz suchte. Ich lieferte mich in der Stadtkirche ein, über den offenstehenden Hintereingang. Es war reine Intuition. Weil ich mir nicht sicher war. Ob ich wirklich Rettung wollte, ob ich weiterleben wollte. Im Mahlstrom meines nachlassenden Bewusstseins dachte ich: Du kannst dich auch sterben lassen.
Du kannst dich sterben lassen.
Das war kein Suizidmoment, wo man selbst noch aktiv werden muss. Wo man eine Pistole ansetzen oder Medikamente fressen oder von der Brücke springen muss, nein, war nicht nötig. Ich hätte nichts weiter tun müssen, als den Dingen ihren Lauf zu lassen. Ihren Lauf, den sie nehmen würden, gäbe es keine modernen Zeiten mit Notruf, Herzkatheter, pulsierendem Ultraschall.
In den Katakomben der Stadtkirche roch es nach Politur und Filterkaffee. Ich kauerte vor der Holzbank, neben mir der Hund. Du hast die Wahl, dachte ich, und mein Herz schmerzte. Drückte. Die Holme knackten. Musst bloß ein wenig warten, bis das ruinierte Herz alle Aus- und Zugänge geschlossen hat. Ein bißchen noch. Die wärmende Hand unter mir schaufelte mich hoch. Ich flog ein bißchen.
Dann erhob ich mich und wankte mit dem Hund an der Seite den langen Flur entlang, Richtung Sozialräume. Wo drei Menschen mich empfingen und die 112 wählten. Wo ich auf dem Sofa ruhte, den Hund leise junkern hörte und ihn streichelte, er saß jetzt genau zu meinen Füßen.
Wenn gleich die Rettungskräfte kommen, dachte ich, gibts ein Problem. Der Hund wird sie nicht an mich ranlassen.
Na schön, die Sanitäter kamen an mich ran und retteten mich und brachten mich ins Krankenhaus und der Fahrer fluchte, weil die Einkaufszone zugeparkt war. Der Hund landete für ein paar Stunden im Tierheim, bis die Gräfin ihn auslöste, und ich hatte für einen Moment die Wahl gehabt zwischen Leben und Tod, einen winzigen Moment nur, aber immerhin, ich meine, ich hätte auch alles sausen lassen können.
Sehr beruhigend, das.
Schlagwörter: Das Herz ein heiliger Ort, Glumm, Herzinfarkt, intuition, Literatur, Tod
12. November 2012 um 5:09 nachmittags |
Ob sich so etwas wieder sagen lässt, ‘Du kanst dich sterben lassen’? Und was genau wohl das Beruhigende daran ist, die als solche empfundene Wahlmöglichkeit oder der Gedanke, dass man tatsächlich auch mit dem Sterben einverstanden sein könnte.
Irgendwie beruhigend, dieser Text.
12. November 2012 um 9:44 nachmittags |
Wow
13. November 2012 um 5:20 vormittags |
[...] über seinen Herzinfarkt und eine [...]
13. November 2012 um 5:55 vormittags |
So ging es mir auch. In solchen Momenten hat der Mensch die Wahl.
13. November 2012 um 10:21 vormittags |
Ehrlich gesagt, wenn ich den Text so lese: hauptsächlich hab ich mordsmäßig Dusel gehabt. Das mal zuallererst.
13. November 2012 um 6:31 vormittags |
viva glumm!!
13. November 2012 um 11:14 vormittags |
geschenkte zeit. zum glück für uns. so können wir weiter lesen, was dich umtreibt oder umgetrieben hat. gruß, uwe
13. November 2012 um 11:18 vormittags |
Poch. Poch. Soll doch immer weitergehen. (Mann!)
14. November 2012 um 2:19 nachmittags |
Eben nicht.
13. November 2012 um 2:31 nachmittags |
es gibt glückliche zeiten..als uns uwe staunen liess damals mit dem hinterköppchen.Tooor!
14. November 2012 um 2:18 nachmittags |
ich habe ja im andern blog deinen langen text vom sommer schon gelesen, so dass das hier eine art ergänzung ist, ein neuer, ein weiterer aspekt.
und immer der hund.
ich bin froh, dass du so ehrlich über den tod schreiben magst und auch, dass du noch da bist.
viva la muerte …
14. November 2012 um 5:12 nachmittags |
Ja. Schön, dass Sie noch da sind. Sie würden fehlen.
15. November 2012 um 9:33 vormittags |
und immer dieser Hund..
15. November 2012 um 9:35 vormittags |
und immer bewegend.
‘Im Mahlstrom meines nachlassenden Bewusstseins dachte ich: Du kannst dich auch sterben lassen.
Du kannst dich sterben lassen.’
16. November 2012 um 2:12 nachmittags |
Der Gedanke ist doch sehr beruhigend: “Du kannst Dich auch sterben lassen”
Ich kenne Menschen, allerdings nicht viele, die sich bei jeder Gelegenheit ne Vollnarkose geben lassen, mit dem Gedanken, vielleicht nicht mehr aufzuwachen. Ist nur schlimm für die, die zurück bleiben.