Wenn die Wandlungen ein Lied pfeifen, dann geh hin und lausche

Die Wand steht ihren Mann. Standhaft erträgt sie jede Fliege, die sich auf ihr verirrt. Sie verspürt keinen Durst. Hunger ist ihr ein Fremdwort. Geduld ist ihr keine Tugend, sondern ihr Alltag, der keine Wochenenden, keiner Ferien kennt. Nie jammert sie. Fürchtet nicht das Dunkel. Und sollte sie doch Angst verspüren, so spricht sie zumindest nicht darüber. Kerzengerade salutiert sie jedem, der eintritt. Sie blinzelt nicht mit den Augen. Verliert keine überflüssigen Worte. Sie schweigt über die Gespräche, deren Zeuge sie wird. Kein Bild verschönert sie. Nichts hängt an ihr. Rechts trifft sie auf ein Fenster, links auf eine Kollegin, die von einer Tür durchwachsen ist.

Durchlässig ist die Kollegin. Menschen schreiten durch sie hindurch. Es könnte sie kitzeln. Man weiß es nicht. Ist die Tür offen, sieht es aus, als würde die Wand laut lachen. Ein schallendes Gelächter, das einem rasch unheimlich wird. Männer mit Akten gehen durch die Türöffnung, durch das Loch, das verschließbar ist.

Die Wand ohne Tür könnte sehnsüchtig zur Kollegin blicken. Sie wurde deshalb noch nicht befragt. Würde sie auf eine solche Frage antworten, wäre das allemal einen Eintrag in eine der Akten wert. Noch hat niemand gefragt. Es sieht momentan nicht danach aus, als würde sich einer oder eine finden, der oder die eine solche Frage zu stellen gewillt ist.

Nur wenige hier denken über die Wände nach, die dies bemerkt haben könnten. Auch dazu äußerten sie sich bisher nicht.

Die Wand mit Tür, ist selbige geöffnet, lacht ein zahnloses Lachen. Zähne könnten eingesetzt werden, würden aber den Eintritt erschweren. Deshalb wird es wohl auch nicht zu solchen Implantaten kommen. Über Zahnärzte für Türöffnungen ist nichts bekannt. Einem solchen Beruf scheint es an Kundinnen zu mangeln.

Sitzt man vor der Wand ohne Tür, kann es zu einem kleinen Blickaustausch kommen. Die Wand mustert die Person, die an einem Schreibtisch vor ihr sitzt, während die Augen der Person eine Träumerei auf die weiße Fläche der Wand projizieren. Bilder aus der Kindheit der Person. Eine Sehnsucht. Manchmal auch der rasche Gedankenblitz, der sich fragt, ob die Wand über eine Art von Augen und Gedächtnis verfügt.

Die Wand überhört in Ermangelung von Ohren die Frage. Es ist nicht weiter schlimm, wurde sie doch nicht ausgesprochen. Gedankenleserei ist der Wand fremd, nicht aber die stille Hoffnung, einmal gestreichelt zu werden. Gestrichen wurde sie schon oft. Es tat ihr gut. Sie nahm es mit einem unterschwelligen Kichern, kaum vernehmbar, hin. Gestreichelt hat sie noch niemand.

Sie wird die Hoffnung nicht aufgeben. Sie lauscht auf die Buchstaben, die die Menschen aussprechen. Sie will lernen. Bald schon wird sie erste Wort flüstern. Vielleicht in der Nacht, wenn sie nicht gehört wird. Sie übt fleißig. Drei Buchstaben. ICH.

Man sollte die Wände nicht länger übersehen. Sollte sich an sie lehnen und horchen, ob etwas geflüstert wird. Es könnten drei Buchstaben sein.

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