Heute Morgen meldeten einige Sender und Portale, u.a. Stern.de, dass die Zahl der Selbstständigen, die aufstockendes Arbeitslosengeld II beziehen, zugenommen hätte. 118.000 Personen würden übergangsweise Geld beziehen, weil sich ihre Selbstständigkeit (zeitweise) nicht trägt. Weiterhin befürchteten die Arbeitsagenturen Missbrauch, weil man sich ja „arm“ rechnen könne. Leider sind solche Meldungen oft sehr plakativ und passen ein wenig zum momentanen Trend, lieber den Fachkräftemangel zu betrauern als die Chancen der Selbstständigkeit zu bejubeln. Deshalb möchte ich die Aussagen an dieser Stelle gern ins rechte Licht rücken.
Zu der Zahl von 118.000 ist festzuhalten, dass es inzwischen 4,2 Millionen Menschen gibt, die auf eigene Rechnung tätig sind. Davon 118.000? Kaum 3,5%, die aufstockendes Hartz IV beziehen. Selbst wenn man davon ausgeht, dass etwa die Hälfte dieser Selbstständigen noch angestellt ist, also Nebenberufler, ergibt sich immer noch ein niedriger Wert. Dem stehen rund 28 Millionen Menschen gegenüber, die sozialversicherungspflichtige Jobs haben, davon sind aber rund 28% (!) Aufstocker, d.h. der Lohn reicht nicht aus, um das eigene Einkommen oder das der Familie zu decken. Da sehen die Zahlen von heute Morgen doch gleich ganz anders aus. Ohne eine Milchmädchenrechnung anstellen zu müssen, ergibt sich, dass Selbstständige offenbar sehr viel seltener auf aufstockendes Hartz IV angewiesen sind als Angestellte.
Zum Missbrauchsverwurf kann ich nur sagen: Ich hatte Kunden, die übergangsweise auf das „Amt“ angewiesen waren, so gut wie immer unverschuldet – teilweiser nach Verlust eines Hauptauftraggebers, teilweise aufgrund von Krankheit. Keiner geht freiwillig dahin; erst recht wird ein normal motivierter und engagierter Unternehmer das “Aufstocken” nie und nimmer als Dauerlösung akzeptieren. Der Gang zum Amt ist unangenehm, sehr unangenehm. Das Runter-Rechnen ist es auch. Klar ist ein Aufaddieren möglich. Doch erstens macht das keinen Spaß und zweitens lässt die Arge es nicht durchgehen, dass ein Aufstocker sich einen Mac oder einen beruflich zu nutzenden Porsche kauft, um damit seinen Auftrag zu finanzieren. Diese theoretische Möglichkeit besteht praktisch meiner Erfahrung nach kaum.
Es mag Schnorrer geben, die gibt es überall. Es mag auch Menschen geben, die psychisch nicht in der Lage sind, eine selbstständige Tätigkeit Vollzeit auszuüben und eine Zeitlang abtauchen müssen, um sich wieder zu berappeln. Es gibt auch Unbelehrbare, die Jahre erfolgreich waren, dann in die Verlustzone schlittern und nicht kapieren, dass sich Ihr Business und auch unsere Welt verändert hat – und sie das auch müssen. Die wären aber auch für einen Angestelltenjob (derzeit) nicht gewappnet.
Danke für die Klärung!
Ich kann dem nur zustimmen!
In Österreich gibt es dieses “Problem” erst gar nicht, Gewerbeschein schließt de-facto von Sozialhilfe bzw. Mindestsicherung aus – das heisst aber nicht, dass es nicht jede Menge Selbständige gibt, die eine solche Unterstützung zumindest temporär dringend nötig hätten.
Beste Grüße aus Wien
Regina Haberfellner
Vor einigen Wochen war in der Presse Coach bashing angesagt – heute sind wohl die Selbständigen dran.
BRAVO, Svenja Hofert! Ich danke Ihnen sehr für dieses Statement. Den Artikel las ich beim Frühstück in der SZ, später dann über twitter dann noch im Fokus, in der Zeit etc.
Die Verallgemeinerung hat mich sehr geärgert.
Sicher, es gibt Schnorrer und Betrüger – wie auch bei Angestellten, Unternehmern, Schwarzarbeitern, Scheinselbständigen und und und.
Aber dieses über-einen-Kamm-Geschere ist unsäglich! Es gibt wirklich arme Schweine, denen durch 1 oder 2 weggebrochene Großkunden der Boden unter den Füßen weggezogen wurde.
Außerdem: Wer hat denn vor ein paar Jahren verdammt viele Arbeitslose in die Selbständigkeit förmlich gedrängt? Ich AG und so? Damit die Arbeitslosenstatistik ein bisschen geschönt werden kann!
Ich möchte nicht wissen, wieviele damals NICHT darüber aufgeklärt wurden, dass es nicht die beste Voraussetzung für eine gelungene Selbständigkeit ist, lediglich der Arbeitslosigkeit entkommen zu wollen!
Ja, es sind deshalb viele selbständig geworden, die dafür eigentlich nicht geeignet sind. Das hätte vorher abgefangen werden können mit mehr Bedacht und Weitblick.
Sich jetzt aber beschweren, dass soviele Hartz IV brauchen? Da ist doch wohl eher mal Kehren vor der eigenen Tür angesagt, liebe Arbeitsagenturen!
Herzlichst Bettina Stackelberg
Hallo Frau Haberfellner und Stackelberg, Herr Briegert, danke für Ihre Feedbacks. herzliche Grüße Svenja Hofert
Interessant wäre es zu wissen, wieviel die Hartz IV in Anspruch nehmenden Selbständigen vorher in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben. Das wäre eine wichtige Information.
Das spielt an sich keine Rolle, da Arbeitslosengeld II nicht aus den Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung, sondern aus Steuergeldern finanziert wird. Andernfalls bestünde ja Anspruch auf ALG I. beste Grüße Svenja Hofert
Hallo Frau Hofert, danke für dieses sachliche Hinterfragen und Präzisieren der Zeitungsmeldung. Laut Haufe.de im Mai 2011 erhielten 2010 insgesamt 1,383 Millionen Menschen zusätzliche Unterstützung neben ihrer sozialversicherungspflichtigen Berufstätigkeit. Und jeder 10. arbeitet im Öffentlichen Dienst bzw. im öffentlichen Sektor (dazu gehört übrigens auch das Bildungs- und Sozialwesen – angesichts meiner eigenen Erfahrungen über die Gehälter bei Akademien etc., die Lehrgänge für arbeitslose Menschen/ausbildungssuchende Jugendliche anbieten, wundert mich das nicht…) !!! Diese Zahl erschreckt mich wesentlich mehr als die der 115.000 selbstständig arbeitenden Menschen/Freiberufler, von denen übrigens 85.000 unter 400 Euro verdienen (!!). Das “Schreckgespenst” des Betrugs mag in Einzelfällen zutreffen, Betrüger gibt es bestimmt, doch die vielen, die sich bemühen, etwas aufzubauen, eine Idee in die Welt zu tragen, benötigen die Unterstützung sicher dringend. Wenn man jetzt überlegt, die Zahlung zeitlich zu begrenzen, denke ich, dass dies der weiteren Abschreckung dienen soll. In Deutschland wird das gefördert, was man früher mal “abhängige Beschäftigung” nannte – leider.
Hallo und guten Morgen Frau Hofert,
sehr guter und informativer Artikel, den ich gerne weiterempfehle. Ich habe die Nachricht in den Medien auch gehört und mir ähnliches dabei gedacht.
Vielen Dank dafür, dass Sie das Thema mit diesem Artikel auf den Punkt (und auf den Bildschirm) gebracht haben
Viele Grüße
Hubert Baumann
http://www.hubertbaumann.com
Hallo Frau Hofert,
sehr gut auf den Punkt gebracht, wie ich finde. Sie sprechen genau die Wahrheit an, die viele “Entscheidungsträger” nicht wissen wollen.
Ich habe Ihren Artikel auf Twitter und Facebook weitergeleitet.
Viele Grüße
Bianca Schwacke
http://biancaschwacke.wordpress.com
Hallo Frau Hofert,
endlich mal kein Null Acht Fünfzehn abschissen von Hartz4 Empfängern. Ich kann nur sagen, wer mit der ARGE einmal zu tun hatte,
ist abgeschreckt fürs Leben. Ich warte z.B. schon seit 3 Monaten auf ALG2, das mir eigentlich gesetzlich zusteht. Aber die Arge will absichtlich verzögern und treibt mich in die Verzweiflung. Die kommen immer wieder mit neuen Unterlagen, die ich einsenden soll. Und der “nettte” Satz sie sind zur Mitwirkung verpflichtet ist auch nicht der bringer. Also ich kann seit gut 3 Monaten verstehen, warum viele Hartz4 Empfänger nach längerem Hartz4 “Genuss” total demotiviert sind und manchmal sogar Angst vor dem Amt haben. Das sollte so in einem Sozialstaat nicht sein. Menschlich ist das nicht und die “Kunden” wie sie im Beamtendeutsch genannt werden sind dort nicht mal Menschen 2ter sondern 3ter Klasse. Also wer geht da freiwillig zur ARGE. Die blockiert mich in meiner Existenzgründung nun schon 3 Monate und ich komme nicht weiter, da schon die nächste Anforderung von angeblich benötigten Unterlagen vorliegt, die ich bearbeiten muß. Ich möchte eigentlich bald mal mit meiner Firma loslegen und nicht mich mit diesen”Beamten” rumärgern müssen. Nur leider wird sowas nicht als Meldung veröffentlicht. Dann lieber plakativ auf Hartz4 schimpfen und dem Volk nach dem Mund reden. Ich kann nur nochmals sagen, Hartz4 tut sich keiner freiwillig an. Sowas von demotivation , wie man in diesem Amt erlebt, gibts nur einmal und hat auch mit Fordern und Fördern nichts mehr zu tun.
Dennoch versuche ich weiterhin meine Motivation aufrecht zu erhalten, was mir nicht immer leicht fällt.
Freundliche Grüße und danke für die RIchtigstellung
B.RE
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