Baltus    



Irgendwann im Mai. Am Himmel Cirruswolken über dem Gebirgszug; Züge ohne erkennbares Ziel. An gleißenden Gleisen hatte sich der Schotter aufgeheizt, als Baltus in Zugzwang geraten war vor der heran schnaufenden Lok, welche den Zug zog, in dem seine Liebste, die Erika, den Lokführer Anton lockte. Der war Baltus bester Freund, schaffte in einem Zug vier Schnäpse und drei Klimmzüge mit Zigarette, vernachlässigte seine Obacht und überlegte nicht, dass Baltus, selbst kein eisern Bahnender, mit ihm kollidieren oder gar entgleisen könnte.

Bitternis war im Verzug eingedrungen, nachdem Erika mit Anton fortgezogen war, an den Schnittstellen, wo Baltus Hörner aufgesetzt worden waren, die er trotzend zu Zwölfendern verwuchern ließ oder mehr. Mit der Zeit hatten sich diese von selbst amputiert, als das zulässige Gesamtgewicht überschritten wurde. Das majestätische Röhren verhallte im kastrierten Gemütsgewebe, während Baltus röchelnd in den Abgrund einer Schnabeltasse geblickt hatte.

Da sprang er ab von dieser zugigen Schiene und verschlief die lauen Nächte auf dem Seelendorfer Friedhof, direkt an der im Sommer aufgewärmten Innenmauer, auch wenn sich Katzen gelegentlich neben ihm in wildem Vollzug ihrer Liebesspiele verwickelten und entsetzlich kreischten.

Brombeergebläut erwuchs eines Tages die Stadt aus heiterem Himmel, wo eben die Finsternis den Friedhof asphaltierte. Morgenröte wie Blut aus pochender Narbe bahnte sich eine Strecke darüber, geheftet an den Kondensstreifen eines Fliegers.

Auf Baltus Altar, einer zerbrochenen Marmorplatte, entbrannte ein Streit unter den drei alten Schachteln, als er nach der kontemplativen Betrachtung, wie gewöhnlich, ihre Reihenfolge Zug um Zug verändert hatte; die rote Schachtel gefüllt mit konserviertem Eigenblut wollte wieder nach vorn, die braune mit Heimaterde tat sich schwer, doch stationierte sich die hoffnungsgrüne vor den anderen – ganz vage, ohne Inhalt.

Am späten Morgen packte Baltus seinen Schlafsack und ein paar übrige Habseligkeiten, zog eine Urinspur hinter sich her und schlurfte gen Heiligenplatz auf zum ewigen Bodenkrieg mit den anderen Gebetsbrüdern. Gesehen habe ich aber immer nur ihn, zwischen den drei krüppeligen Eschen, Bahnhof machend, vor dem zertretenen Rasen – wie versteint.

An diesem gewöhnlichen Montagnachmittag, Anfang September, von den Lebenden abgekoppelt, transportierte ihn ein Wagen ab ohne Leichenzug. Baltus’ Schlafsack und die übrigen Habseligkeiten raffte ein Penner zusammen. Die hoffnungsgrüne Schachtel blieb zurück. Ein Junge, der alles neugierig beobachtet hatte, überprüfte kurz ihren Inhalt, gab der Schachtel einen Fußtritt und trollte sich. Ich hob sie auf. Ein Zeitungsausschnitt mit einem Bild vom Baltus seiner Erika war darin. Sie war tags zuvor gestorben, auf ungeklärte Weise unter einen Zug geraten.

erika&baltus (Bild: Enno Ahrens)


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