Der Hamster hat dir auf den Bauch geschissen …

28. Juni 2004 | Von | Kategorie: Allgemein

Ingeborg Bachmann Preis: 28. Tage der deutschsprachigen Literatur Klagenfurt 2004.

Nach der Lese-Visite des Chirurgen und ehemaligen Panzerkommandanten der NVA am Nachmittag des zweiten Tages war klar, der Ingeborg Bachmann Preis 2004 geht an Uwe Tellkamp. “Der Schlaf der Uhren” hatte nicht nur die ‘Marschallin der Jury’ Iris Radish befallen, sondern auch den grössten Teil ihrer Kombattanten auf der Strassenbahnfahrt durch die Geschichte Dresdens vorbei an schiesswütigen Rotarmisten in der Schokoladewanne Platz nehmen und festkleben lassen. Allein Klaus Nüchtern leistete noch im abendliche Chat nachträglich verhaltenen Widerstand: “Der Text ist natürlich auch gut, nur trägt er das auch auf eine etwas divenartige Weise vor sich her. Ich mag solche – von opernhaftem Kitsch nicht ganz freien – Überwältigungstexte nicht besonders.” Der Text entfaltet seinen Rhythmus und seine Musikalität beim Lesen; Tellkamps fulminanter Vortrag war phasenweise zu schnell und “zersächselte” stark die Melodie des Textes. Natürlich ist die Entscheidung der Jury für diesen Text nachvollziehbar und berechtigt; er gehörte nachweislich zu den besten und entsprach offensichtlich der Erwartungshaltung der Juroren.
Der Kampf um die weiteren Plätze blieb offen. Spannend wurde es noch einmal, als sich am Samstag der Luxemburger Guy Helminger mit ‘Pelargonien’, einem durchgeknallten Radfahrer und einer bei einem Verkehrsunfall verletzten Frau in die Herzen der Jury kicherte. Der Autor geriet beim Lesen seines Textes vor Vergnügen über sein Werk, derart ins Lachen, dass er seinen Vortrag unterbrechen musste. Zweifelsohne ein lustiger Text; aber gaben die montierten Versatzstücke aus Kriminalroman und Naturlyrik sprachlich wirklich so viel her, dass es des 3sat-Preises bedurfte, um den Hofnarren für seine Spässe zu belohnen?
Die sprachlich und thematisch interessantesten Beiträge lieferten bereits am ersten Tag Wolfgang Herrndorf und Simona Sabato.
In Herrndorfs ‘Diesseits des Van-Allen-Gürtels’ entwickelt sich auf der einen Seite ein zaghafter Dialog und gegenseitiges Interesse zwischen dem erwachsenen männlichen Protagonisten und einem zur Gewalt neigenden Jugendlichen auf dem Balkon einer leerstehenden Wohnung. Andrerseits zerbröselt der Dialog des Protagonisten mit seiner Freundin via Anrufbeantworter und Nachrichten-ausrichten-lassen über Unbekannte im Nichts. Es entsteht eine Geschichte über das Zerbrechen von Lebensträumen, die mit dem KELAG-Publikumspreis belohnt wird.
“Ein nebliger Tag, die Allianz ist nicht zu sehen. Ich muss ohne meinen Fixpunkt sein.” – Der wohl zentrale Satz in Simona Sabatos Text, [der Anfang eines Romans, den ich auf jeden Fall zu Ende lesen werde, wenn er denn erschienen sein wird.] Jurorin Daniela Strigl erblickte in Sabatos Prosa das “beunruhigende Psychogram” einer Person, die versucht “Varianten von Normalität durchzuexerzieren, wobei aber keine Normalitätsfolie zu passen scheint.” – “Total Gaga”, lautete das Urteil von Iris Radisch. Sie sah im Text eine “ganz grosse Verarschung” der Jury und der Leser. Zwar sei die Coolness, mit der hier erzählt werde zu loben, der Zugang zum Trash der Autorin, der ohne jede Wertung erfolge. Gleichzeitig kritisierte Radisch die “Schreibwirklichkeit” der Autorin, die nur als “absolutes Desaster” zu bezeichnen sei. – Im Gegensatz zu Frau Radisch sehe ich gerade darin die Stärke des Textes. Immerhin half Frau Radisch mit, dass Simona Sabato in der dritten Kampfabstimmung, der sie sich stellen musste, der Ernst-Willner-Preis der Verlage zuerkannt wurde.
Spannende Stichwahl beim Preis der Jury. Der “Preis der Jury” konnte erst nach einer Stichwahl zwischen dem von Burkhart Spinnen nominierten Arno Ross und der gleichfalls von ihm nach Klagenfurt gebrachten Autorin Simona Sabato für den Autor des Textes “Pauls Fall” vergeben werden. Spinnen blieb mit “melancholischer Insistenz” bei Arno Ross, und meinte weiter: “Sie haben mich in die schwierigste Situation gebracht, in der jemals ein Juror bei dieser Abstimmung gewesen sein dürfte. Ich kann nichts anderes tun, als bei meinem Vorschlag Arne Ross bleiben”. – “Der Text ist zart durch Genauigkeit”. Heinrich Detering sah die grosse Stärke des Textes darin, “sehr anrührend, ohne sentimental zu sein”, weil er “zart durch Genauigkeit” sei.
Juli Zeh, hochgelobte Absolventin des Deutschen Literaturinstituts Leipzig, enttäuschte auf ganzer Linie. Sie las ‘Nichts ist schlimmer als Unversehrtheit’ ein Kapitel aus ihrem Roman “Spieltrieb” der im August 2004 bei Schöffling & Co erscheinen wird. Sie schaffte es nicht einmal unter die zehn Autoren zu kommen, unter denen die Preisträger ausgewählt wurden. Ursula März zeigte sich “völlig fassungslos”, weil die Welt in der Erzählung Zeh’s in zwei Lager gespalten werde, und es zu einer unzulässigen Verbindung zwischen “Physiognomie und Ethnologie” komme. Inhaltlich ist dem zuzustimmen. Sprachlich fesselnd geschrieben, zog er beim ersten Zuhören durchaus in seinen Bann auf den zweiten Blick jedoch ärgerten dumpfe Klischees. Mit diesem Duktus ‘bräunlicher’ Physiognomie könnte Zeh zur Riefenstahl neudeutscher Pennäler-Literatur mutieren.
Die Änderung des Reglements, Berwerbungen nur mit schriftlicher Empfehlung eines Verlages oder einer Literaturzeitschrift zuzulassen, konnte nicht verhindern, dass einzelne Beiträge von sprachlich zweifelhafter Qualität in den Wettbewerb gelangten und nur unter der Rubrik Ärgernis abgehandel werden können:
Ein Text, der explizit mit Personen der Zeitgeschichte arbeitet und in seiner vorgelegten Endfassung den Namen einer der Personen sage und schreibe drei Mal falsch schreibt, disqualifiziert sich schon aus formalen Gründen selbst. “Witzlos, konstruiert, abgeschmackt” bezeichnete Heinrich Detering diesen Text. Zwar werde durch die Erzählhaltung eine präzise Erinnerung suggeriert, der Text weise aber einige evidente Fehler auf. (Richard David Precht) – Texte, die dem Leser auf fünfzehn Seiten nach direkter Rede in sechzig Fällen, das Wörtchen “sagte …” zumuten, sind ein Fall für den Deutschlehrer. (Sandra Hoffmann)
Dann gab es noch zwei Ausflüge in den Bereich der Zoologie: eine lyrisch empathisierte Eidechse auf “Guantanamo” (Dorothea Dieckmann) und die Geschichte von den Mädels mit dem Hamster (Melinda Nadj Abonji): ” dann lachte Antonella und sagte, der Hamster hat dir auf den Bauch geschissen.”

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