Die Funktion der Pornographie in Literatur und Gesellschaft – aus der Sicht der Frau [Teil 1]
4. Februar 2009 | Von WT | Kategorie: AllgemeinVorbemerkung: Die kürzlich verstorbene Heidelberger Autorin Elisabeth Alexander sorgte in den 70ger Jahren nicht nur mit ihren Texten und öffentlichen Auftritten für Furore, sondern beeinflußte über Jahre hinweg die literaturtheoretische Diskussion mit ihren Beiträgen weit über die feministischen Kreise hinaus. Im angesagtesten Jahrbuch der deutschen Underground-Literatur, dem legendären »Ulcus Molle Szenen-Reader« des literarischen Informationszentrums Bottrop von Josef »Bibi« Wintjes war sie regelmäßig vertreten. Ihr Beitrag zur Pornographie aus dem Jahrbuch 73/4 ist Meilenstein der feministischen Literaturtheorie jener Jahre und ein zeitgeschichtliches Dokument ersten Ranges.
Ich möchte es in mehreren Folgen in Erinnerung rufen und stehe vor dem selben Problem wie seinerzeit Josef Wintjes. Im Inhaltsverzeichnis vermerkte er »Tipfehler konnten nicht mehr rechtzeitig korrigiert werden«; er hatte von der Autorin das Originalmanuskript erhalten und musste es komplett im Zwei-Finger-System auf der Schreibmaschine abtippen, um es als Druckvorlage verwenden zu können. Der Beitrag ist im Szenen-Reader zweispaltig gesetzt und in einem solchen Zustand, dass er sich jeder Texterkennungssoftware widersetzt. Ich habe den Text erneut abgetippt, die damaligen Tippfehler beibehalten und hoffentlich keine neuen hinzugefügt.
Ich möchte keine chronologische Aufzählung liefern, wer sich wann in der Geschichte der Literatur mit Pornographie auseinandergesetzt hat. Vielmehr will ich die gesellschaftlichen Unterschiede zwischen älterer und neuerer Pornographie-Literatur aufzuzeigen versuchen.
Wenn ich davon ausgehe, daß Pornographie in der Übersetzung Hurenliteratur bedeutet, ist durch dieses Wort sofort der Hinweis auf den wichtigsten Bestandteil der Pornographie gegeben: Das Geld.
Wer Geld besaß, konnte Huren besitzen. Wer außer Geld Bildung besaß, konnte Hurenliteratur besitzen.
Daraus ergibt sich ganz selbstverständlich, daß Huren und pornographische Literatur über Jahrhunderte hinweg einer geldbesitzenden gebildeten Gesellschaftsschicht vorbehalten blieben.
Ich weiß keine konkreten Anhaltspunkte wie die pornographische Literatur entstanden ist, aber ich bin sicher, daß sie durch Erzählungen und Klatschereien der Hetären zustande kam. Irgend jemand begann die Hetärenerlebnisse niederzuschreiben, wie sie z.B. in den Hetärengesprächen vn Lukian festgehalten sind. Das geschah wohl in der gleichen Weise, wie über die Kriege, die Götter, die Liebe berichtet wurde.
Die Hurenliteratur diente bestimmt nicht allein dem heimlichen Lesen in den eigenen vier Wänden, sie hatte wahrscheinlich einen festen Platz im gesellschaftlichen Leben. Sie diente der privaten Unterhaltung, beim Vorlesen, der Lust und Phantasieanregung der Gäste, die wegen ihres Reichtums, ihrer Zugehörigkeit zur Bildungsschicht in der Lage waren, sich ähnliche Lusterlebnisse zu ermöglichen.
Die Hurenliteratur bewegte sich infolgedessen nur in einer Gesellschaftsschicht, die keine vordergründigen sexuellen Nöte kannten. Sexualität war für sie ein genußvolles Körperspiel, und allem Neuen gegenüber zeigten sie sich neugierig aufgeschlossen und selbstverständlich.
So bildeten Reichtum und lückenloses Auslebenkönnen der Lust in dieser Gesellschaftstruktur eine Einheit.
Hetären waren in ihr anerkannt, und ihre Bedeutung beschränkte sich nicht ausschließlich auf die Vermittlung körperlicher Lustgenüsse, sie hatten vor allem oft entscheidenden Einfluß auf kulturelle und politische Bereiche.
Aus dem ursprünglichen vom Staat gegründeten Hetärenwesen hatten sich aus der Initiative einiger Frauen freie Hetären entwickelt, die in eigenen Wohnstätten Männer geistig und körperlich bestimmten. Und manche Töchter aus jener Gesellschaftsschicht suchten die Bekanntschaft kluger und musischer Hetären, um durch sie Bildung zu lernen.
Ich will damit sagen, daß für die Pornographie der älteren Zeit Geist genauso bestimmend war wie das raffinierteste und sinnenfreudigste Körperspiel. Auch bei den Römern besaß die Pornographie Ansehen als Literatur. Hier sei nur auf Ovid verwiesen.
Es gäbe noch eine Fülle römischer pornographischer Literatur aufzuzählen, französischer, wie auch Geschichten über Päpste und Mätressen, Könige und Wäscherinnen. Da uns heutige Menschen keine Pornographie so stark beschäftigt, wie die gegenwärtige, will ich, bevor ich auf die Jetztzeit zu sprechen komme, noch einen Streifzug durch die von mir gelesene pornographische Literatur antreten und hinzufügen, daß ich leidenschaftlich gerne Balzac, das Decamerone, Zola, Maupassant, Musset, Lady Chatterly – um nur einige zu nennen, gelesen habe.
Mit leideschaftlich gern, will ich zum Ausdruck bringen, daß mich die Phantasie einmal in Bezug auf die Orte der Handlung, also der Möglichkeiten, und zum anderen, die ausgesonnensten Körperspiele fasziniert haben, da beide oft unerhört absurd und dennoch real ausführbar waren.
Miller habe ich nie zu Ende gelesen, weil mich das langweilte und mir die verkommenen Geschlechtsszenen – bei Miller vermeide ich bewußt das Wort Sexualität – zu trocken, zu fade waren, ohne den geringsten Anflug von Erotik.
Da möchte ich es vorziehen, auf die englischen Limiricks hinzuweisen, die frivol und intelligent, eine Stimmigkeit in sich bergen.
Die Groschenpornographie, die uns aus Amerika freundlich ins Land kam, habe ich aus den bereits bei Miller erwähnten Gründen nur durchgeblättert. Die Anhäufung von erlogenen Körperzusammenkünften, die bloß durch die Reizverben aus dem Fickvokabular glaubhaft gemacht waren, verdroß mich.
Der grundsätzliche Unterschied in der Wirkung der älteren und der neueren Pornographie ist die veränderte gesellschaftliche Struktur. Die Wandlung vollzog sich etwa seit dem Ersten Weltkrieg. Waren die Frauen und Mädchen des Bürgertums am direkten Existenzkampf nicht notwendig beteiligt, so sahen sie sich plötzlich zur Arbeit gezwungen, um sich und die Familie mit zu erhalten.
© Elisabeth Alexander, Ulcus Molle Szenen Reader 73/74 S.113 ff. [Ende Teil 1 - wird fortgesetzt]
siehe auch: "Vortragsreihe der Initiative Buchkultur"
Um Artikel über soziale Netzwerke weiterzuverbreiten, müssen Sie diese aktivieren - für mehr Datenschutz.