Der Bewohner des Bleistiftgebiets

admin | Posted 20/03/2007 | Autoren | Keine Kommentare »

Robert Walser, 1907.


Doppelgänger oder doch nur alles Einbildung? E. Y. Meyer begibt sich in seiner Erzählung
Eine entfernte Ähnlichkeit
auf die Spuren Robert Walsers.



Am Weihnachtstag
1956 bricht ein alter, hagerer Mann zu einem Spaziergang auf. Es ist nach
Mittag, und mit der Bewegung in der Kälte lassen sich die reichliche Portion
Sauerkraut, Fleisch und Würsten und die Meringues mit Schlagrahm gut verdauen.
Für den 77-Jährigen ist der Weg beschwerlich, verschneit, in hügeliger
Landschaft. "Schochenberg heißt die Höhe. Bald hat er den Ort unter sich, die
Fabriken, die Häuser, die Kirchen. Der Friedhof liegt gegenüber. Die Anstalt,
dort drüben, ist durch den Schleier der Luft kaum mehr zu sehen. Er freut sich
an seinem Atem, den er als weiße Nebel aus sich herausstößt."


Das weiß Jürg
Amann über den letzten Aufbruch Robert Walsers zu berichten. Er wird von diesem
Spaziergang nicht mehr zurückkehren. Im Alter von 51 Jahren, 1929, war Walser
in die Heilanstalt Waldau in Bern gekommen. Er hörte Stimmen und hatte
Depressionen. Vier Jahre später wurde er in die Heil- und Pflegeanstalt Herisau
in seinem Heimatkanton Appenzell-Ausserrhoden überstellt und entmündigt. Dort
verbrachte er die unverdienteste Zeit seines Lebens, bis an dessen Ende er
nichts mehr schrieb.



Ein
Sprachartist in der Mitte der Manege


Walsers Prosa ist
von einer derart liebenswerten Verschrobenheit, dass man kaum mehr von ihr
ablassen kann. Sie fügt sich geschmeidig in jedes erzählerische Genre, das er
bedient hat: den Roman, angefangen bei
Fritz Kochers Aufsätze
(1904),
Geschwister
Tanner
(1907),
Der Gehülfe
(1908),
Jakob von Gunten
(1909),
bis zu den Erzählungen, den Aufzeichnungen und Fragmenten.


Und wie bei jedem
Schriftsteller, so gab es gerade bei Walser viel Unveröffentlichtes, in seinem
Fall ab jenem Zeitpunkt etwa, als sein Gemüt der Welt Lebewohl sagte und er
fortan ärztlicher Unterstützung bedurfte. Die beiden Jahrzehnte nach der
Jahrhundertwende jedoch sind Walsers intensivste Schaffenszeit: Die Bücher
erscheinen in angesehenen Verlagen: bei Cassirer und Rowohlt in Berlin, bei
Rascher in Zürich.


Zu Walsers Förderern zählt Max Broch. Walser will Fuß fassen
im literarischen Berlin, wo sein Bruder Karl als Maler und Bühnenbildner lebt.
Das Zwischenspiel in der Großstadt dauert acht Jahre, 1913 kehrt er in die
Schweiz zurück und bezieht eine Dachkammer im Hotel Blaues Kreuz in Biel.
Mehrere Prosabände erscheinen in den Jahren darauf, zwei Romane aus dieser Zeit
sind bis heute verschollen.


Zwischen 1924 und
1932 entsteht schließlich ein Konvolut aus 526 Blättern. Diese Aufzeichnungen
aus Walsers Bleistiftgebiet – vielleicht eines der aufregendsten Gebiete in der
Weltliteratur – sind ein Speicher von Erzähltem, Erdachtem, Notiertem, für
weitere Ausarbeitung Vorgesehenem, aber auch Abgeschlossenem.


Die Manuskripte
sind Legende: mit freiem Auge kaum lesbar, hat Walser seine Texte auf allem
erdenklichem Papiermaterial notiert, in einer alten Sütterlin-Schrift, die man
lange für einen Geheimcode gehalten hatte. Heute ist Walsers Bleistiftgebiet
erschlossen und zugänglich – ein Leseabenteuer wie kaum ein zweites, weil sie
den Sprachartisten Walser in die Mitte der Manege rückt, die vergeblich
auszufüllen er in seinem Leben versucht hatte.

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Walsers Doppelgänger?


Nun ist Walser
selbst zum Gegenstand eines literarischen Textes geworden. Der Schweizer Autor
E. Y. Meyer hat sich in seiner Literatur schon einmal auf die Spuren eines
eidgenössischen Schriftstellers begeben. In seinem Roman
Der Ritt. Ein
Gotthelf-Roman
(2004) beschreibt er den Weg des Albert
Bitzius von Bern nach Lützelflüh am 1. Jänner 1831, wo dieser eine
Vikariatsstelle antritt. Unter dem Pseudonym Jeremias Gotthelf wird er bis zum Ende seines Lebens nicht weniger als
20.000 Druckseiten zu Papier bringen.


Eigentlich wollte
der Erzähler nur seine Mutter im Krankenhaus besuchen, doch als er im
übernächsten Dorf einkehrt, fällt ihm ein alter Mann auf, "in bäuerlicher
Kleidung mit kurz geschnittenen weißen Haaren" und "auffallend hellen blauen
Augen". Dieser Mann, der mit seinen Meinungen nicht hinter dem Berg hält, lässt
dem Erzähler keine Ruhe.


Und weil sich in seiner Vorstellung die Bilder von dem
alten Mann und von Robert Walsers übereinander schieben, begibt er sich auf die
Suche und spürt ihn schließlich in der Anstalt auf, "Loser Hans. Jahrganz zwei.
Also siebzig". Kein einfacher Zeitgenosse, ein Sonderling, kaum jemals in der
Anstalt anzutreffen.


Die erste Zusammenkunft entlarvt den Plan des Erzählers
zunächst als
idée fixe
, doch Loser ist nicht jener Walser-Abklatsch, für
den er ihn gehalten hatte, und nun sind es nur mehr Äußerlichkeiten, die an den
Autor erinnern. Die Distanz jedoch hat Meyer in seinen Erzählstil schon
angedeutet: keine direkten Reden, sondern nur indirekte, kein "Ich", sondern
ein steriles "man": Man hat gesehen, man hat gesprochen undsofort. Eine
entfernte Ähnlichkeit ist eben nur eine entfernte Ähnlichkeit und nicht mehr, eine
Referenz und nichts Authentisches.


In gewisser Weise gerät der Erzähler in die
Rolle Carl Seeligs, Schriftsteller, Journalist und Vormund Robert Walsers, der
seine Gespräche mit ihm in
Wanderungen mit Robert Walser
festgehalten hat.
Was Meyer jedoch aufzeichnet, sind nicht Lebensfragmente eines Künstlers,
sondern eines Mannes, dessen Lebensinhalt aus Arbeit, Schmerzen und Begegnungen
mit der Wirtin im Gasthof besteht. Zunächst hat er in einem Schlachthaus
gearbeitet, dann in einer Färberei. Doch letztlich stellt der Erzähler
ernüchtert fest: "Es gab, bis auf die blauen Augen, keine besondere
Ähnlichkeiten dieses Mannes mit Robert Walser."


Wozu dann diese Geschichte? Die
Antwort auf diese Frage ergibt sich erst, wenn man die beiden Essays über
Robert Walser, die der Erzählung folgen, liest. Zunächst aber doch eine
Ähnlichkeit: Loser, so berichtet der Erzähler, stirbt an einem 25. Dezember auf
einem Spaziergang, den er nach dem Weihnachtsessen unternommen hat. Die Art und
Weise, wie er im Schnee lag, glich der Gestalt von Walsers Körper im Tod aufs
Genaueste.


Um Ähnlichkeiten
geht es auch in den Essays
Sympathie für einen Versager
und
Ein großer
Spaziergänger
, ersehnte Ähnlichkeiten zwischen einer Generation von Schweizer
Schriftstellern, die sich als Identifikation mit einem Außenseiter entpuppen.
Doch Gedächtnis und Identifikation formen die Wirklichkeit um, sodass die
Fakten des Lebens längst hinter einer Patina von falschen Vorstellungen und
Missverständnissen verblassen, bis sich schließlich auch Meyer eingestehen
muss, dass er Walser nicht kennen kann, weil jeder ein Produkt seiner Zeit ist,
die die darin verbrachten Leben in unüberbrückbare Entfernungen rückt.


Meyer
macht klar, wie fragil unsere Vorstellungen nicht nur von Walser, sondern von
den Zeiten überhaupt sein können, wie viel Unwahres, Vermutetes, Erdachtes sich
zum Wirklichen hinzuschlagen und auf die eigene Wirklichkeit einwirken kann -
die beinah postmoderne Wendung von der Abwesenheit oder Unmöglichkeit der
Geschichte oder vielmehr ihrer Darstellung.



Um das eigene
Bild Walsers wieder ins historische Lot zu rücken, schlage man Jürg Amanns
Bildbiographie auf. Amann kombiniert seinen biographischen Essay mit
zeitgenössischen Fotografien und Texten Walsers und ermöglicht damit eine
aufregende Reise durch ein recht und schlecht gelebtes Leben.


Bilder können
nicht täuschen – oder doch? Zumindest lassen sie die Atmosphäre einer Zeit
erahnen, auch wenn diese wiederum nun ein Konstrukt unserer Gegenwart ist. In
Amanns Buch verliert man sich dennoch mit Hingabe, und man darf sich wünschen,
dass der Walser’sche Funke überschlägt und die Leser neugierig macht, die Nase
einmal wieder in einen Roman des Schweizers zu stecken.


Am 25. Dezember
1956 starb Robert Walser auf einem Spaziergang. Eines der letzten Fotos zeigt
ihn im Schnee liegend, den linken Arm von sich gestreckt, die rechte Hand den
Saum seines Mantels fassend, als wollte er ihn noch einmal zurechtrücken. In
das Profil seiner festen Gehschuhe hat sich Schnee eingedrückt, sodass sich das
Muster, das sich wie ein zehnfüßiges Insekt ausnimmt, klar
erkennen lässt.


Der Moment, der ihm den Tod in den Körper fahren und das nun
irre Gemenge aus Muskulatur und Knochen deshalb rasch zusammenfallen ließ,
beförderte seinen Hut in die Fluchtlinie seines Körpers einige Meter oberhalb
des Kopfes. Auf einem Bild aus anderer Perspektive sieht man die kurzen
Schritte, die Walser sicher durch den Schnee stakste, bis ihn die Kraft
verließ. "Was war denn ein Toter?", fragt Walser in
Geschwister Tanner
. "Ei, eine Mahnung ans Leben. Weiter gar nichts."



E. Y. Meyer

Eine entfernte
Ähnlichkeit. Eine Robert-Walser-Erzählung

Folio Verlag
ISBN
3-85256-341-0
sFr 34,30


Jürg Amann

Robert Walser.
Eine literarische Biographie in Texten und Bildern

Diogenes Verlag
ISBN
3-257-06553-1

sFr 51,90

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