“Man lernt nichts mehr im Alter”

admin | Posted 24/03/2007 | Autoren | Keine Kommentare »

Martin Walser: 80. Geburtstag am 24. März 2007


Am 24. März wird Martin Walser 80 jahre alt. Seite 4 traf den Schriftsteller am Bodensee – und sprach mit ihm über Glück, Desdemona und Eisenbahnfahrten.


Herr Walser, wie alt möchten Sie nicht werden?

Das lässt sich nicht in einer Zahl ausdrücken. Wenn ich mich gesund und arbeitsfähig fühle, und gesund und arbeitsfähig fühle ich mich, dann denke ich nicht an Schlussabstraktionen.


Werden Ihre Lebensträume im Alter konkreter oder abstrakter?

Ich bin von Berufs wegen nahezu verpflichtet, aufmerksam zu sein auf das, was man das Älterwerden nennt. Das ist auch mein Anspruch. Ich will genauer sein, als je über das Alter geschrieben wurde. Als ich 32 war, habe ich in mein Tagebuch geschrieben: “Was mit 50 noch nicht geschrieben ist, wird nicht geschrieben werden.” So ein Blödsinn! Sie sehen, ich war sehr borniert dem Alter gegenüber. Aber ich habe die Erfahrung gemacht: Schreiben ist eine Lebensart. Anders kann man es nicht ausdrücken. Wenn etwas geschieht, dann reagiert es bei mir mit Sätzen. Dann merkst du, dass du etwas schreibst, das du vor 20 Jahren nicht hättest schreiben können. Ich meine jetzt nicht Themen, sondern Sätze. Die hängen mit deiner Haut, mit deinem ganzen Wesen zusammen. Sätze, die eben nur jetzt, im Alter, möglich werden.


Wie verändert sich das Schreiben?

Man wird konzentrierter und genauer. Die Konzentration nimmt zu – aber das Gedächtnis nimmt ab. Ich vergesse Namen. Oder in der Nacht fallen mir tolle Sätze ein, und wenn ich am Morgen aufwache, habe ich sie vergessen.


Ändern sich auch die Themen – Stichwort “alter Mann, junge Frau”?

“Angstblüte” war erst mein zweiter Roman in dieser Konstellation. Eine Kritikerin der Zeit hat daraufhin eine feministisch gedachte Parodie geschrieben, die Geschichte einer 70-jährigen Frau und eines 30-jährigen Mannes. Vor fünf Jahren habe ich “Lebenslauf der Liebe” geschrieben, darin war die Frau 68 und der Mann 34. Dieses Verhältnis habe ich schon längst durchexerziert. Es gibt eben Kritiker, die haben kein so langes Gedächtnis. Aber kommen wir zurück auf Ihre Frage: Dieser Altersunterschied ist derselbe Unterschied wie zwischen dem schwarzen Othello und der weißen Desdemona. Der Rassenunterschied als die totale Schranke. Der unüberwindliche Unterschied als Tragödie per se. Und genau dasselbe hat es mit dem ungeheuren Altersunterschied auf sich. Diese Differenz bringt von selbst ein Konfliktpotenzial in die Geschichte. Die Unmöglichkeit des Glücks zwischen zwei so verschiedenen Menschen. Für mich ist dieses Thema noch nicht ausgereizt.


Welche Komplimente einer jüngeren Frau verunsichern Sie?

Unglaubwürdige. Aber in Wirklichkeit ist es sehr viel komplizierter, weil ich mich auch darüber freuen kann, dass sich eine Frau die Mühe macht, mir unglaubwürdige Komplimente zu machen – selbst wenn ich dann so tue, als protestierte ich.


Philip Roth soll einmal gesagt haben: “Writers don’t read for fun.”

Stimmt nicht. Das Lesen hat bei mir nie eine analytische Haltung. Wer Robert Walser liest, der ist zutiefst ergriffen und aufgewühlt. Nachträglich kann es passieren, dass ich einen Text auseinandernehme.
Proust habe ich zweimal gelesen. Ich wollte mir darüber klar werden, warum ich ihn so verehre. Dasselbe mit Hölderlin. Ich jedenfalls lese “for fun”. Ich merke, dass ich lebendiger bin, wenn ich lesend Eisenbahn fahre, als ohne zu lesen; obwohl ich Leute bewundere, die ohne zu lesen Bahn fahren können. Und dann kommt noch etwas hinzu – und das ist vielleicht das Genaueste, was man über das Älterwerden sagen kann: Dass man von anderen Schriftstellern nichts mehr lernt. Ich habe nicht mehr das Eingewiegtsein in einen gewissen Stil wie zum Beispiel während meiner Proust-Zeit: Jede Bahnschranke siehst du zweimal an, um herauszufinden, ob sie eine Erinnerungsqualität hat. Das ist vorbei.


Welche Ihrer Bücher würden Sie als Buchhändler empfehlen?

Ich hänge immer am meisten an meinem letzten Buch. Die Zeit, in der ich nicht zuerst “Angstblüte” empfehlen würde, ist noch nicht vorstellbar. Danach “Lebenslauf der Liebe”, “Ein springender Brunnen”, “Ein fliehendes Pferd” und dann “Ehen in Philippsburg”. Ich habe einmal in Kassel einen Tag lang in einer Buchhandlung gearbeitet. Dort habe ich mich dabei ertappt, entscheiden zu wollen, was für den Kunden das Beste ist, ohne mich aufden Kunden einzulassen. Ich fürchte, ich wäre ein schlechter Buchhändler geworden.


Und was schreiben Sie als Nächstes?

Diesen Herbst habe ich frohgemut an zwei Dingen geschrieben. Das eine könnte man eine Novelle nennen, das andere ist ein Roman. Bald werde ich mich entscheiden müssen.

Martin Walser: Leben und Schreiben. Tagebücher 1963-1972.
Rowohlt, 672 Seiten
Rolf Dobelli: Wer bin ich? 777 indiskrete Fragen.
Diogenes, 144 Seiten

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