Der sanfte Riese
admin | Posted 11/04/2007 | Uncategorized | Keine Kommentare »
Europa wird das 21. Jahrhundert beherrschen, glaubt Mark Leonard. Allen Pessimisten zum Trotz. Sein Einfluss wird immer grösser. Vor allem steht Europa für ein neues politisches Modell, das ohne Muskelspiele auskommt.
Kaum älter als 30 und schon Direktor für internationale Politik am Centre for European Reform in London. Mark Leonard bekam die Geistesarbeit in die Wiege gelegt: Seine Mutter ist die in Brüssel lebende und lehrende Irene Heidelberger-Leonard, Herausgeberin von Jean Amérys Werken und Autorin einer grossen Biographie über ihn, für die sie den Einhard-Preis bekommen hat.
Mark Leonards Vater hat lange das Europa-Büro des "Economist” geleitet und in der englischen Politik eine Rolle gespielt. Dieser existentielle, politische und kosmopolitische Hintergrund hat Europa für Mark Leonard zur Selbstverständlichkeit gemacht. Er ist kein naiver Optimist und Bürokrat. Es lohnt sich, seinen Ausführungen zu folgen – sie sind in über zehn Sprachen übersetzt worden. Auf Deutsch erscheint sein Essay als Originalausgabe bei dtv.
Immer wieder stösst man in diesem Buch auf die Bemerkung, dass ein Krieg zwischen den europäischen Staaten nicht mehr möglich ist – und nimmt sie weder dem Autor noch dem Lektorat übel. Was einst eine Hoffnung, eine Utopie war, ist offensichtlich zu einer Tatsache geworden. Und man freut sich, dass es junge Autoren gibt, die das nicht einfach als Selbstverständlichkeit abtun, sondern darin einen einmaligen historischen Prozess und vor allem einen Fortschritt ausmachen.
Erfolgsgeschichte
Mark Leonard beschreibt den Aufbau und Zusammenschluss Europas von den bescheidenen, unspektakulären Anfängen an. Was mit den Römischen Verträgen begann, ist zu einer exemplarischen
Erfolgsgeschichte geworden. 450 Millionen Menschen leben in den Ländern der Europäischen Union. Um sie herum macht Leonard eine Zone aus, die vom Handel mit der Europäischen Union abhängig und auch politisch sehr stark auf sie konzentriert ist: 80 Länder mit 1,3 Milliarden Bewohnern.
Zu dieser Einflusszone gehören für Leonard die Staaten der ehemaligen Sowjetunion, der Balkan, Nordafrika – sogar Teile von Schwarzafrika und der Nahe Osten. Rückschläge und Krisen sind nicht ausgeblieben: die Ablehnung einer europäischen Verfassung in Holland und Frankreich; oder die Skepsis gegenüber dem “Teuro” nach der Euphorie seiner Einführung. Für Mark Leonard überwiegen die Errungenschaften – und er hält sie für gewaltig. Die europäische Diplomatie ist wohl die grösste Hoffnung für die Regelung des Konflikts mit Teheran. Auch im Nahen Osten.
Im Krieg gegen Jugoslawien war Europa auf die amerikanische Militärmacht angewiesen, aber es sind Europäer, die vor Ort die entscheidende Rolle spielen. Noch hat Europa keine Armee, seine aussenpolitischen Defizite sind aber wahrscheinlich geringer, als immer wieder moniert wird. Leonard verweist schon in seiner Einleitung darauf, dass weltweit rund 70.000 Soldaten aus europäischen Ländern mit der Einhaltung des Friedens beauftragt sind. [pagebreak]
Allerdings, schränkt er ein, ist die europäische Macht noch nicht mit jener der Vereinigten Staaten vergleichbar: “Die EU hat keinerlei Einfluss auf Nordkorea und Pakistan”, das ein Schlüsselland im Kampf gegen den Terrorismus ist. Aber wohin reiste Bush nach seiner Wiederwahl? Moskau? Neu-Delhi? Peking? Berlin? Nach Brüssel. Denn er hatte, schreibt Mark Leonard, begriffen, dass Amerika auf Europa angewiesen ist. Zum ersten Mal seit fünfzig Jahren, seit es die Welt vom Weltkrieg, den die Europäer angezettelt hatten, befreite.
Und von seinen Diktaturen. Während des Kalten Kriegs hatten die USA die Institutionen geschaffen, mit denen sie die Weltordnung – keineswegs schlecht, wie man seit 1989 anerkennen muss – aufrechterhielten. Die NATO, auch die Vereinten Nationen, der Währungsfonds und die Weltbank entstanden auf ihre Initiative. Inzwischen aber sind die Europäer zum Motor geworden: die Welthandelsorganisation, die Umweltkonferenzen, der Internationale Gerichtshof sind ihre Errungenschaften.
Und was die wirtschaftlichen Regeln betrifft, so Leonard, sei selbst Microsoft gezwungen, sich den Vorstellungen Brüssels zu unterwerfen. Leonard kritisiert die Journalisten, die immer nur die Krise sehen, und lobt die Historiker, die längst erkannt haben, was sich hier abspielt. Europa verkörpert eine neue Form der Macht, die man nicht mit Panzerdivisionen und dem Militärbudget beziffern kann. Die wirtschaftliche Potenz gehört dazu, aber sie ist nicht auf eine Hegemonie ausgerichtet. Europas Macht ist jene der “Veränderung”, befindet Leonard: Es beeinflusst die Gesellschaften seiner Mitgliedstaaten und jener Länder, die ihm beitreten möchten. Es steht für eine demokratische, friedliche Entwicklung – und für die Sorge um die Umwelt.
Die beste Antwort
Europa etabliert Normen, deren Durchsetzung es den Nationen überlässt. Es macht seinen Einfluss geltend, ohne zum Feindbild zu werden: “Amerikanische Formen, Botschaften, militärische Anlagen sind eine
potenzielle Zielscheibe des Terrorismus. Europa ist relativ unsichtbar.” Auch das ist für Leonard eine Stärke dieses “sanften Riesen”, der keine Muskelspiele betreibt. In manchen Bereichen geht Europa für den Verfasser nicht weit genug. Er kritisiert die Absurditäten der Landwirtschaftspolitik und die kleinliche Einwanderungspolitik.
Er plädiert auch für ein selbstbewussteres Auftreten auf der internationalen Bühne. Aber allen, die Europa für zu “liberal” und wirtschaftsfreundlich halten (was zum Beispiel das Nein der Franzosen zur Verfassung bewirkte), hält Leonard entgegen: Die Debatte über die Liberalisierung und den Sozialstaat findet in den europäischen Ländern statt, Europa ist auch sozialen und humanitären Werten verpflichtet – und die beste Antwort auf die Globalisierung.