Es geht auch ohne Platzhirsche

admin | Posted 06/05/2007 | Autoren | Keine Kommentare »

Dr. Dirk Vaihinger leitet den Zürcher Verlag Nagel & Kimche

Literatur aus der Schweizer ist produktiv, neugierig, vielfältig und gut. Wie sein Kollege Egon Ammann singt auch der Zürcher Verleger Dirk Vaihinger ein Loblied auf die Schweizer Literatur.

Manchmal überraschen wir uns tatsächlich noch selbst. Vor zehn Jahren hätte niemand die Karriere unseres Schweizer Kreuzes als Trophäe modernen Designs für möglich gehalten. Aber genau das geschah: Plötzlich und unerwartet strahlte nicht nur das Markenzeichen, sondern das ganze Land etwas ungewohnt Mondänes aus.

Fast über Nacht war die Schweiz wieder adrett, en miniature innovativ und grenzüberschreitend en vogue. Während die Swissair am Boden blieb, setzte die Swissness zum Höhenfl ug an. Politisch unbekümmert und unbeschwert von historischem Ballast nahm sich der Zeitgeist, was er vom Nationalsymbol brauchen konnte, und liess den Rest links liegen.

Die Fashion-Tauglichkeit des Emblems wird bald vorüber sein: Eine Mode wird von der nächsten abgelöst, das liegt in der Natur der Sache. Aber das ändert nichts daran, dass die Selbstzerfl eischung des Landes, das sich zu lange selbst genügt und dann zu lange selbst zum Thema gemacht hatte, auf eine seltsam leichte Art beendet schien. Das hatte etwas Befreiendes. Unverkrampfter gelang nun die Erkenntnis: Auch in der Schweiz ist nicht alles sauber.

Auch hier gehörte nicht alles Gold, mit dem wir glänzten, tatsächlich uns. Aber mittlerweile haben wir eine Lektion in Pragmatismus gelernt. Wir haben wunderschöne Landschaften, darüber können wir uns freuen, es geht uns im Vergleich sehr gut, darüber können wir uns glücklich schätzen – das grosse Ganze ist wie überall eine Mischung aus Klugheit und zänkischer Einfalt.


Auf den ersten Blick scheint die Entwicklung der Swiss Lit zu jener der Swissness in einem umgekehrten Verhältnis zu stehen. Bis vor wenigen Jahren sah es so aus, als seien mit dem internationalen Zerfall der Blöcke und dem nationalen Fall der heiligen Kühe der Schweizer Intelligenzija und damit auch der Literaturszene ihre Gegner abhanden gekommen: Militär, Patriotismus, Geschichtsbild, Neutralität und Konformität waren vorgeführt, demontiert und zu Ende kritisiert und also für die Dichter und Denker als Reizthemen erledigt.

Die grossen Konfl ikte des Landes schienen überwunden, und während sich unser nationales Selbstwertgefühl langsam erholte, wurde der Schweizer Literatur vorgeworfen, sie erlahme, sie sei unpolitisch geworden, kein Spiegel mehr der Gesellschaft, ästhetisch und programmatisch orientierungslos oder sie beschäftige sich nur noch mit ihrem eigenen Nabel.


PARKETT STATT HOLZBODEN

Nun hinkt, wie überhaupt in der Kunst, die Kritik der Literatur ihrem Gegenstand hinterher. Die Rückfrage ist daher wohl berechtigt, ob nicht die Kritik ihre Kategorien
überdenken muss, wenn ihren Ansprüchen die Literatur nicht mehr zu genügen scheint. Und tatsächlich: Ändert man den Blickwinkel nur ein wenig, dann stellt sich die Sache plötzlich anders dar.

Statt einer kraftlosen, provinziellen und zersplitterten Textlandschaft wird plötzlich eine vielfältige, produktive, neugierige Literatur sichtbar, die in allen Farben schillert. Die Themen und Auseinandersetzungen werden allerdings nicht mehr von wenigen Platzhirschen vorgegeben, die früher einmal das Terrain beherrschten und den intellektuellen Primat vorgaben.

Ein solches Feld mit einem Epizentrum, wie es Frisch und Dürrenmatt etwa besetzten, war für die Beschreibung dessen, was literarisch in der Schweiz passiert, natürlich wesentlich einfacher zu fassen, als die Vielfalt es heute erlaubt. Aber das ist kein Problem der Literatur, sondern der Literaturbetrachtung. Dezentralisierung ist keineswegs gleichbedeutend mit Absinken in Mittelmässigkeit.

Auch resultiert die Vielfalt keineswegs aus einer konstitutiven Kritiklosigkeit. So wenig die Swissness per se ein chauvinistisches Schweizbild restauriert, sondern vielmehr entspannte (wenn auch in weiten Teilen kommerzielle) Züge trägt, so wenig fi ndet die gegenwärtige Schweizer Literatur auf dem alten Holzboden statt. Oder andersherum: Aus dem alten Holzboden ist ein fein gemustertes Parkett geworden.

Hinzu kommt das Problem, dass bei dem Wechsel von hierarchischer Ordnung zur Vielfalt die ewige Frage, was die Schweizer Literatur denn überhaupt sei, noch dringlicher scheint. Denn was sie ist, was sie soll und sein kann, bemisst sich ja nicht nur an der Feststellung, wer oder was qua Nationalität oder Wohnsitz des Urhebers dazu gehört, sondern auch, wer eine Rolle spielen darf und was dazu gehören soll.

Die Frage nach der Zugehörigkeit ist eben auch eine Frage der Repräsentation und der Exklusivität, ein Gerangel um Deutungshoheit und Abgrenzung – auf allen Seiten. Das kann man ärgerlich finden, es gehört aber wesentlich zur Kunst, die gleichermassen selbst- und fremdbestimmt ist.

Selbst- und fremdbestimmt bedeutet auch, dass die Literatur als nationales Kulturgut ein Zwitterwesen ist: Die Bücher, alles singuläre Wesen, buhlen als Einzelkämpfer um die wenigen Plätze der Aufmerksamkeit in den Medien und in Buchhändlerherzen. Zugleich aber sollen sie als Repräsentanten einer nationalen Zugehörigkeit gegen ihre Konkurrenten aus anderen Ländern antreten.

Aufgrund dieser Seltsamkeit streiten viele Schriftsteller rigoros ab, überhaupt Schweizer Literatur zu produzieren. Denn schliesslich, so ihre sich widersprechenden Argumente, würden sie die Bücher in der jeweiligen Hochsprache und nicht in Dialekt verfassen. Und ausserdem sei die Literatur viel zu uneinheitlich, um sie unter ein gemeinsames Nationaletikett zu zwingen.[pagebreak]


WAS VERKAUFT WIRD, GIBT ES

Die Bücher werden indessen eifrig von Buchhändlern in Regale gefüllt, über denen die Tafel “Schweizer Literatur” sogar als eigene Gattung neben der “Lebenshilfe”
und der “Fantasy” prangt. Die Buchhändler entsprechen damit den Wünschen des Publikums nach Orientierungshilfe.

Von ihnen zu verlangen, sie möchten doch bitte ihre Warengruppen ändern, wäre absurd – und gegen die Interessen der Schriftsteller, denn ihre Bücher werden häufig gerade dieser Zugehörigkeit wegen gekauft.

Entgegen den politischen Bewegungen der Transnationalisierung und der individuellen Mobilität hat sich das Interesse der Leserinnen an Themen und Autorinnen aus ihrem Land, ihrer Region, ihrer Heimat kaum gewandelt. Auf das schönste Bonmot hat Peter Bichsel diesen Widerspruch gebracht: “Schweizer Literatur verkauft sich. Also gibt es sie.”

Das bedeutet, dass wir hier mit einem konstitutiv vorläufigen und also diffusen Begriff hantieren, der an den Rändern unscharf ist, in dem vieles Platz hat, manches nur vorübergehend, manches nur ein Stück weit, anderes hingegen deutlich und fraglos.

Das braucht uns aber nicht zu beunruhigen. Es ist ein bisschen so wie mit dem Swiss Cheese: In der ganzen Welt wird darunter der Käse mit den Löchern verstanden. Wir müssen nicht jeden Touristen zwanghaft darüber aufklären, dass ein Grossteil des Schweizer Käses gar keine Löcher hat. Auch wenn uns Schweizern der Reflex angeboren scheint, solche Uneindeutigkeit nur schwer zu tolerieren.

Schwer auch, für diese Vielfalt einen Nenner zu finden – und verführerisch, wegen fehlender Spitzen das Ganze für bestenfalls durchschnittlich zu halten. Zugespitzt wird die Schweizer Literatur gegenwärtig einzig im Verkauf.

Wenn wir aber den Begriff der Schweizer Literatur pragmatisch verwenden – für den Buchhändler kann etwas dazu gehören, was der Literaturkritiker partout nicht dabei haben will -, dann hat in nächster Instanz die Schweizer Literatur auch nicht lediglich nur dann etwas zu sagen, wenn sie die gerade herrschende Politik thematisiert oder intertextuelle Beziehungen zum Heidi oder zum “Grünen Heinrich” pflegt oder wenn sie sich mit denselben Themen beschäftigt, die schon Frisch und Dürrenmatt umtrieben.

Dann ist auch etwa die Frage, wie viele Preise die Schweizer Literatur in Deutschland abräumt, nur eine unter vielen. Nach wie vor steckt tief in unseren Köpfen die Überzeugung, erst wenn die Literatur unseres Landes von ausländischen Medien geadelt werde, dürften wir selbst daran glauben, sie sei produktiv, interessant und lesenswert.

Zum Beispiel bringt in der Gattung des historischen Romans die Schweiz ganz Erstaunliches hervor. Um nur drei jüngste Beispiele aus dem Verlag Nagel & Kimche zu nennen: Der Roman “Die letzte Nacht der alten Zeit” von Lukas Hartmann ist eine dramatische Verdichtung einer Gründungsszene unserer Republik. “Das Lachen der Hexe” von Margrit Schriber erzählt die Geschichte einer Hexenverfolgung in der Innerschweiz mit kraftvoller Suggestion.

Und “Der prüfende Blick” von Gabrielle Alioth erzählt in einer äusserst klugen Konstruktion die Lebensund Erfolgsgeschichte der Malerin Angelica Kauffmann. Das sind Romane, die womöglich in Deutschland keine Literaturpreise erhalten – der historische Roman gilt formal als wenig innovativ und wird deshalb häufig im Vorfeld der Begutachtung ausgesondert.

Es sind allerdings auch Romane, die, gestützt auf historisches Material, erhebliches zeitkritisches Potential in sich bergen. Man muss sie nur lesen, um das zu erkennen.


Tipp:


"Was taugt die Schweizer Literatur?"


Podiumsdiskussion an der "BuchBasel"


mit Pia Reinacher, Egon Ammann und Dirk Vaihinger


Moderation: Urs Heinz Aerni.


Sonntag, 13. Mai 2007, 10.00 – 10.45 Uhr, Sachbuchforum

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Titel:
Überleben ist nicht genug

ISBN-13:
9783905795110

Autor:
Spielmann, Urs

Verlag:
Xanthippe Verlag, Zürich

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