Der freche Sound des Unglücks
admin | Posted 12/06/2007 | Belletristik | Keine Kommentare »
Das passiert auch dem TV-Moderator Gert Scobel selten. "Mit dem dritten Satz hatte sie mich", schreibt er über einen Debüt-Roman. Er heisst "Die alltägliche Physik des Unglücks". Geschrieben hat ihn Marisha Pessl. Er klingt wie Musik von Chet Baker.
1985 nahm der Jazz-Trompeter Chet Baker ein Album in einer äußerst gewagten, riskanten Konstellation auf: Er spielt darauf einzig und allein mit dem Pianisten Paul Bley. Das Album lebt von dem virtuosen Zusammenspiel der beiden, von Trompete und Klavier. Das erste Stück, “If I should lose you”, beginnt mit einem Klavierakkord.
Dann folgt Stille und ein einziger Ton der Trompete, der deshalb ebenso nachdrücklich wie seltsam ist, weil er einem auch nach mehrmaligem Hören das Gefühl gibt, dass dieser Ton kein einzelner Ton ist. Es scheint, als sei in diesem einen Ton bereits das gesamte – melancholische – Lied enthalten.
Chet Bakers Trompetenstimme ist mit diesem einen Ton keineswegs melancholisch wie die Komposition selbst, sondern eher verhalten, dabei aber kurz und dynamisch. Alles, vor allem auch Chet Baker, ist ganz und sofort mit diesem einen Ton da.
Die haut drauf – mit viel Humor
Auch Marisha Pessl, über deren grandioses Aussehen und erstaunlich junges Talent viel, und viel Dummes, geschrieben worden ist, hat diese Begabung, bereits mit dem ersten Ton, dem ersten Satz ganz da zu sein. (In aller Kürze für die Neugierigen: Sie ist 1977 in North Carolina geboren, lebt heute im New Yorker Stadtteil Tribeca mit zwei Katzen namens Fellini und Hitchcock, liebt Filme und ihren Ehemann.)
Ihr 600 Seiten dickes – oder, vom Lesegenuss her betrachtet: 600 Seiten kurzes und kurzweiliges – Buch beginnt mit diesem Satz: “Dad sagte immer, ein Mensch braucht einen fabelhaften Grund, um seine Lebensgeschichte aufzuschreiben, wenn er will, dass jemand sie liest.” Dieser erste Satz fordert gleich heraus: Den Leser ebenso wie die Autorin.
Dein Dad hat recht, denkt man und pflichtet ihm insgeheim bei. Dabei richtet sich der Satz gegen die Autorin, scheint es, macht den Leser gegen sie zum Komplizen, gleich von Anfang an. Am Anfang steht die Aufforderung, sich zu trauen, ehrlich und skeptisch zu sein, so wie es jede Leserin und jeder Leser in Wahrheit ist, wenn er zum ersten Mal in einem Buch blättert.
Immerhin wird man eine Menge Zeit mit so einem Buch, mit diesem Dad und möglicherweise mit der eigenen Skepsis verbringen, doch das falsche Buch gekauft zu haben. Also gut, denkt man, dann gib mir jetzt mal möglichst schnell eine gute Begründung, warum ich dieses dazu auch noch umfangreiche Buch mit so einem sperrigen Titel überhaupt lesen soll.
“Die alltägliche Physik des Unglücks” – was bitte soll das sein? Was hat Physik mit Unglück zu tun? “Wenn man nicht Mozart heißt”, fährt Pessl fort, und man ahnt, dass man nun mit einem Mal auch selbst gemeint sein und auf die Schippe genommen werden könnte, “oder Matisse, Churchill, Che Guevara, Bond – James Bond -, dann sollte man seine Freizeit lieber damit verbringen, mit Fingerfarben zu malen oder Shuffleboard zu spielen, denn außer deiner Mutter mit den Wabbelarmen und der Betonfrisur und dem Kartoffelbrei-Blick, mit dem sie dich immer ansieht, möchte niemand die Einzelheiten deiner jämmerlichen Existenz hören, die zweifellos genauso enden wird, wie sie begonnen hat – mit einem Ächzen.”
Marisha Pessl
Wo Bildung nicht mehr weiterhilft
Die haut drauf, denkt man. Endlich mal jemand, der sagt, dass man vielleicht besser mit Fingerfarben gemalt hätte (so wie manche Autorinnen und Autoren). Und sie? Der freche Ton zeugt von Humor. Kartoffelbrei-Blick! Aber ist das Ganze nicht ein wenig geschwollen?
Ist sie nicht doch zu jung, um so einen Ton durchzuhalten und einen dicken Roman zu schreiben? “Angesichts so rigider Parameter”, und wieder fühlt man sich ertappt, “war ich bisher davon ausgegangen, dass ich meinen fabelhaften Grund frühestens mit siebzig finden würde, wenn ich Altersflecken und Rheumatismus habe, einen Verstand so scharf wie ein Tranchiermesser … einen zwanzig Jahre jüngeren Liebhaber … und nachdem ich, mit ein bisschen Glück, einen kleinen Triumph auf dem Gebiet der Naturwissenschaften oder der Philosophie eingeheimst habe, der mit meinem Namen verbunden ist.”
Spätestens jetzt, mit Satz Nummer drei, hatte sie mich. Mit noch nicht einmal einer Seite.Kaum ein Debüt der letzten Jahre dürfte mit einem derartig sicheren, dabei spielerischen und (scheinbar) immer wieder an sich selbst zweifelnden Ton begonnen haben. Mögen die Fragen, die Pessl in der kunstvollen “Einleitung” ihres Buches stellt, auch gravierend und schwer erscheinen (in Wahrheit spricht nicht sie, Marisha Pessl hier, sondern bereits vom ersten Moment an ihr fiktives Ich namens Blue van Meer): Pessls Stil bleibt leicht, ironisch, manchmal spöttisch, stets spielerisch und witzig trotz mancher Sätze von Thomas Mann’scher Länge und einer Melancholie, die immer wieder zwischen den Zeilen durchklingt wie Chet Bakers erster Ton.
Auf der ersten Seite erfährt man, warum dieses Buch entstanden ist – ohne jedoch zu wissen, was dieses Erzählen einer Geschichte in Wahrheit eigentlich bedeutet. Denn Blue, die Erzählerin und Halbwaise, findet ihre schöne Lehrerin Hannah tot auf, erhängt an einem orangeroten Verlängerungskabel, Augen wie zwei schwarze Mantelknöpfe, die Schnürsenkel zu perfekten Doppelknoten gebunden. Die Spuren dieses Ereignisses, dessen Geheimnis erst nach und nach gelüftet wird, wehen durch den gesamten Roman – von Anfang an.
Aus dem Bildungsroman wird zunehmend ein Buch, das erkennen lässt, dass Bildung und das gesamte Erwachsensein nur bedingt weiterhelfen zu leben und mit Unglück fertigzuwerden. Unglücke haben die harte Regelmäßigkeit einer kalten, eben rein physikalischen Welt, in der die Dinge nun einmal sind, wie sie sind, und sich wenig um die Menschen scheren, denen sie zustoßen.
Ihre Kapitel hat Pessl allesamt nach großer Literatur benannt – ein feines Spiel: Auch das eine Herausforderung für den Leser und die Autorin. Teil 1 etwa beginnt mit “Othello, William Shakespeare”, Teil 2 mit “Moby Dick, Herman Melville” und Teil 3 mit “Das Geheul und andere Gedichte, Allen Ginsberg”.
Es endet mit den “Metamorphosen, Ovid” – und einer Abschlussprüfung. Blue van Meer, die Erzählerin, ist 16, sehr belesen, klug, deshalb ein wenig
verschroben. Aber stets für eine Überraschung gut. Ebenso wie Pessl, wenn sie etwa auf der Seite, auf der Hannah zum ersten Mal wieder auftaucht, Blue schildern lässt, wie aus ihrem Bourbon-gelaunten Vater Trinksprüche auf Benno Ohnesorg hervorbrechen.
Auf den Benno Ohnesorg, nach dessen Tod bei einer Demonstration in Berlin im Juni 1967 die so genannten Studentenunruhen in Deutschland begonnen haben. Blues Vater Garet ist ein seltsamer Charakter: gut aussehend, allwissend, charmant, ein Frauentyp, dabei Professor und ihr engster Vertrauter. Und doch ist er rastlos, denn zusammen ziehen beide nach dem Unfalltod von Blues Mutter durch Amerika. Die Lücke, die die Mutter im Leben beider hinterlassen hat, füllen Vater und Tochter mit Wissen, mit Büchern, mit Romanen. Und Dad mit Frauen, die von ihm angezogen werden
wie Motten vom Licht. Doch das Buch ist kein High-School- und Campus-Romanzen-Roman. Eher ein Roman, der irgendwann, nachdem man sich gefreut hat, immer wieder mal ein Zitat und eine Anspielung zu entdecken, zeigt, wie wenig mit dem ganzen Bildungswissen und dem postmodernen Stil gewonnen ist. Schließlich geht es um den Tod, der in mehrfacher Hinsicht immer wieder hinter den ironischen Wendungen der Geschichte und vor allem in den gekonnt geschriebenen Dialogen lauert.
Kein Wunder übrigens, dass das Buch verfilmt wird. Scott Rudin schreibt das Drehbuch – er hat unter anderem auch “The Hours” (“Die Stunden”) zu einem filmischen Welterfolg gemacht.
Langweilig? Unvorstellbar!
“Jeder ist verantwortlich für den Spannungsbogen in seiner Lebensgeschichte”, sagt Dad später irgendwann zu Blue. “Auch wenn du einen fabelhaften Grund hast, kann deine Lebensgeschichte trotzdem so langweilig sein wie Nebraska, und daran ist niemand anders schuld als du selbst.”
Wer dieses Buch langweilig finden sollte – was eigentlich unvorstellbar ist, denn Marisha Pessl ist ein Erdbeben an literarischer Kraft und feinsinnigem, dabei humorvollem Können – der muss selbst in Nebraska leben.
Die gute Nachricht ist: Das Buch hilft einem, das alltägliche Unglück und damit Nebraska, wo immer es gerade sein mag, für mehr als einen kurzen Augenblick zu verlassen.
Marisha Pessl: Die alltägliche Physik des Unglücks.
S. Fischer Verlag, 608 Seiten