Wahnsinn einer Göttin
admin | Posted 04/06/2007 | Belletristik | Keine Kommentare »
Sein "Nachtzug nach Lissabon" erreichte ein Millionenpublikum. Jetzt ist ein neues Buch von
Pascal Mercier erschienen: eine meisterhafte Novelle. Lea erzählt vom Absturz einer hochbegabten Geigerin – und von zwei Männern am Abgrund.
Er hätte es sich leichter machen können. Viel leichter.
Pascal Mercier hätte einfach irgendeinen Roman schreiben können, um auf seinem eigenen Erfolgszug Trittbrett zu fahren. Stattdessen verfasste er eine Novelle, die vielleicht schwierigste Prosaform, und eine tragische dazu: “Lea” handelt vom absolutem Absturz – dem Wahnsinn und Selbstmord einer jungen, hochbegabten Geigerin.
Zugleich ist es eine Geschichte über die fatale Liebe eines Vaters. Eine Familientragödie über Fremdheit und Nähe. Pascal Mercier hat das leise Entsetzen seines Verlags gespürt, als er von seinem Plan erzählte. Aber er schert sich nicht um Marketing und Verkaufszahlen. Pascal Mercier heißt mit bürgerlichem Namen Peter Bieri, er ist Professor für Philosophie an der Freien Universität Berlin.
Als Philosoph veröffentlichte er ein Buch über “Das Handwerk der Freiheit”. Für sein neues Buch hat er sich die Freiheit genommen, einem inneren Zwang nachzugeben. Er musste die Geschichte von “Lea” erzählen. Zehn Jahre lang hatte sich ein Bild in ihm angestaut, das Bild eines Mädchens, indem sich, sagt Mercier “kindliche Verletztheit” und “schneidender Anspruch” treffen.
Diesen Anspruch, vor allem gegen sich selbst, hat Lea schon als Kind. Sie ist gefangen in einem Kokon aus Trauer über den Tod ihrer Mutter, als sie eines Tages als Achtjährige mit ihrem Vater im Berner Bahnhof eine kostümierte Geigenspielerin sieht: “Lea hielt den Kopf zur Seite geneigt. Die Sehnen am Kopf waren bis zum Zerreißen gespannt, sie war nur noch Blick. Und die Augen leuchteten”.
Lea bekommt von ihrem Vater, Martijn Van Vliet, eine Geige geschenkt, die beiden suchen eine Geigenlehrerin. Und finden Marie Pasteur. Es ist Liebe auf den ersten Blick, eine fast erotische Beziehung zwischen den dreien. Die Liebe zur Musik, gewiss, aber vielleicht ist Marie mehr als nur ein Mutterersatz für Lea. Später einmal, als sie Lea verloren haben, werden Van Vliet und Marie miteinander schlafen und wissen, dass sie einander nicht gemeint haben.
Lea feiert rasch Erfolge, wird berühmt. Als sie bei einem internationalen Wettbewerb nur Zweite wird, tritt der ehemals berühmte Geiger David Lévy an den Tisch: “Ich sah das Leuchten in Leas Augen, und da wusste ich: Sie würde mit ihm weggehen in die französische Sprache”, sagt Van Vliet, “Lévy, er entführte mir meine Tochter in diese Sprache.” Lévy macht Lea weltberühmt, doch es mehren sich die Zeichen, dass etwas nicht stimmt mit ihr.
Schon als Kind litt Lea unter dem ein oder anderen Aussetzer, jetzt verrutschen ihr die Sätze immer öfter. Heimlich liebt Lea Lévy seit Langem, und als der ihr eröffnet, dass er heiraten wird, dreht Lea durch. Es war “wie ein Sog, der auch das Denken ins Dunkel hinabzog”. Lea wird wahnsinnig. Leas Geschichte ist eingebettet in eine Rahmenhandlung, die den eigentlichen Reiz und die Raffinesse des Textes ausmacht: Zwei Männer, beide in den Fünfzigern, treffen sich zufällig in der Provence. der Chirurg Adrian Herzog, der nicht mehr operieren kann, weil er seinen Händen nicht mehr vertraut, und Martijn van Vliet, der seine Hände vom Steuer nehmen muss, wenn ein LKW entgegenkommt, damit er nicht in Versuchung kommt, die eine kleine entscheidende Lenkbewegung zu machen. Sie verbringen einige Tage, in deren Verlauf Van Vliet die Tragödie von Lea erzählt.
Ein Wunder an Konzentration
Die Fremden kommen einander erstaunlich nah. In einer Szene machen Van Vliet und Herzog einen Spaziergang am Meer in Saint Remy. Van Vliet ist aufgewühlt wie die Wellen, die das Meer an den Strand peitscht. Gegen die Sonne schießt Adrian Herzog Fotos von Van Vliet, wie der aus einem Flachmann trinkt. Van Vliet, ein trotziger Schattenriss im glitzernden Winterlicht der Provence.
So bannt dieses Buch ganze Geschichten in Bilder von unglaublicher Dichte. Bilder, die uns von nun an nicht mehr verlassen werden. “Lea” und das Wunder des Weglassens. “Eine Novelle ist dann gut”, sagt Pascal Mercier, “wenn man wirklich keinen Satz mehr weglassen kann.” Seine Novelle ist mehr als gut. “Lea”, das ist ein Reigen aus Tod und Wahnsinn, getanzt in einem rücksichtslos schönen Winterlicht. Ein Wunder an Kompaktheit und Konzentration.
Ein Buch, das so viele Bilder in sich trägt, dass man es einfach verfilmen muss.
Pascal Mercier
Lea, Hanser Verlag, 256 Seiten,