Labor der Leidenschaft
admin | Posted 30/08/2007 | Autoren | Keine Kommentare »
Mit einer gelungenen Bühnenversion von Goethes Roman
"Die Wahlverwandtschaften" hat das Schauspiel Frankfurt an Goethes
Geburtstag die neue Spielzeit gestern eröffnet.
Regisseur Martin Nimz, bis 2004 Schauspieldirektor in
Kassel, erzählt die tragische Vierecksbeziehung ohne Ironie und Brüche. Nur
Teile der Geschichte lässt er seine Schauspieler nachspielen – manche Passagen
werden aus dem Off vorgelesen, andere übersetzt Nimz in Bilder und Gesten, die
des Textes nicht mehr bedürfen.
Der im Buch stets präsente Garten schrumpft auf Olaf
Altmanns Bühne zu einem einzelnen Bäumchen im Topf, das mit seinem wechselnden Kleid
die Jahreszeiten anzeigt. Stattdessen gibt es auf der leeren Bühne zwei nackte
Laufstege, die je nach Situation als Barriere oder Sprungbrett dienen, die
zusammenwachsen, Klüfte bilden oder auf Drehbühnen herumwirbeln.
In dieser Zentrifuge werden die Gefühle des Ehepaars Eduard
und Charlotte und ihrer Gäste – sein Freund Otto und ihre Nichte Ottilie -
durcheinandergewirbelt wie in einem Laborexperiment zum Thema Anziehung und
Trägheit. Matthias Redlhammer verkörpert überzeugend alle Stadien Eduards vom
saturierten Herren über den von der Liebe neu belebten bis zum verzweifelt
Todessüchtigen. Grandios ist sein ohne Requisiten gespieltes Feuerwerk. Sabine
Waibel lässt als Charlotte in ihrer eisernen Entschlossenheit zum Erdulden doch
stets die Verzweiflung durchblicken.[pagebreak]
Sandra Bayrhammer als Ottilie und Christian Kuchenbuch als
Otto haben weit weniger Text, ihnen mutet Nimz zu, andere Wege zu finden, ihren
Charaktere sichtbar zu machen. Und so spielen Musik (Matthias Engelke) und
Bewegungen eine große Rolle in dieser Inszenierung, die in ihren schönsten Momenten
fast einem Ballett gleicht, nach der Pause aber stark nachließ und am Ende fast
einer Lesung glich.
Ob der 200 Jahre alte Roman noch zeitgemäß ist, darüber
konnten sich die Teilnehmer eines Symposiums am Dienstagnachmittag nicht
verständigen. Die junge Krimi-Autorin Thea Dorn ("Die Hirnkönigin")
langweilen die "blutleeren, fleischlosen Figuren" in diesem
"Laborversuch". "Ich halte Goethe aber zugute, dass er die
Hälfte ironisch gemeint hat", sagte sie unter Protest der Mitdiskutanten.
Die Geschichte wäre heute ganz anders ausgegangen, glaubt Dorn.
Hirnforscher Wolf Singer dagegen hält den tragischen Ausgang
für unausweichlich. "Es musste so kommen." Denn die Figuren
scheiterten nicht an der Gesellschaft, sondern an sich selbst. Auch
Literaturwissenschaftler Peter von Matt hält die Geschichte für zeitlos:
"Es geht um die Liebe als eine Gewalt, der der Einzelne nicht gewachsen
ist", um Liebe als Naturereignis, das gewaltsam in die mühsam errichtete
Zivilisation einer Ehe einbreche.
Der Applaus für Schauspieler und Regie-Team war lang und freundlich,
aber ohne Bravos. Im Rahmen der Festwoche "goethe ffm" folgen bis
Sonntag noch vier weitere Stücke des gebürtigen Frankfurters, der in diesem
Jahr 258 Jahre alte geworden wäre und vor175 Jahren starb: am Mittwoch eine
Wiederaufnahme der "Leiden des jungen Werthers", am Donnerstag eine
Neuproduktion der "Iphigenie auf Tauris" – mit der Sängerin Georgette
Dee als König Thoas – und am Wochenende ein zweitägiges
"Faust"-Gastspiel aus Berlin. (dpa)