Pariser Antiquare gründen “Stadt der Bücher”

admin | Posted 11/09/2007 | Preise und Events | Keine Kommentare »

Christian Vallériaux war der erste Pariser
Buchhändler, der sich in dem nur knapp zwei Stunden von der französischen
Hauptstadt entfernten mittelalterlichen Dorf La Charité-sur-Loire niederließ.

Entdeckt hat der Spezialist für seltene und kostbare Ausgaben den malerischen
Loire-Ort, dessen Altstadt durch das zweitgrößte Cluny-Kloster Frankreichs
überragt wird, im Jahr 1992.

Kurze Zeit später eröffnete er seinen bordeauxrot
gestrichenen Buchladen. Seinem Beispiel folgten schnell weitere Buchhändler,
die Paris verlassen hatten, um sich in La Charité-sur-Loire in ein
einzigartiges Abenteuer zu stürzen: den Ort mit seiner zum UNESCO-
Weltkulturerbe gehörenden Kirche in eine "Stadt der Bücher" zu
verwandeln.

Heute zählt das Dorf mit etwa 5000 Einwohnern zwölf
Fachbuchhändler für altes und modernes Antiquariat, einen der originellsten Typografen
Frankreichs, zwei Kalligrafen und einen Buchbinder. Bis Ende des Jahres werden
sich ein weiterer Buchbinder und ein weiterer Kalligraf in La Charité-sur-Loire
niederlassen. Seit es hier 30 Mal so viele Bücher wie Einwohner gibt, jeden
dritten Sonntag im Monat einen riesigen Buchmarkt, im April den noch größeren
Frühlings-Buchmarkt, die Nacht der Bücher am 1. August, das Festival der Worte,
den mittlerweile international bekannten Salon alter Bücher im Juli und den des
Buchhandwerks im Mai, hängt unter dem Ortschild nun schon seit mehr als sechs
Jahren das Label "Stadt der Bücher".

Wie die Erfolgsgeschichte begann? "Wir wollten Paris
verlassen. Wir hatten genug von den überhöhten Mietpreisen für das Geschäft und
die Wohnung. Außerdem suchten wir nach mehr Lebensqualität", sagte der
61-jährige Vallériaux hinter seinem kleinen Holzschreibtisch. Von hier aus kann
er in seinem Laden alles überblicken: seine Schätze, von denen die kostbarsten
hinter Glasvitrinen verschlossen sind – wie einige Hetzel-Ausgaben der
Abenteuer von Jules Verne. Und natürlich die Tische im Eingangsbereich mit
Ausgaben, die schon so manchen bibliophil veranlagten Besucher glücklich
gemacht haben – für 30 bis 2000 Euro.

Die Werke, die einen noch darüber liegenden Wert erreichen,
befinden sich im ersten Obergeschoss. Zu dem gelangt man jedoch nur in
Christians Begleitung. Ob die Kunden zahlreich kommen? "Meine
Stammkundschaft, immerhin mehr als 50 Prozent der Käufer, ist mir gefolgt. Den
Rest verkaufe ich via Internet oder per Katalog."[pagebreak]

So wie heute sah der Ort nicht aus, als Christian und seine
Frau 1992 ihre Koffer hier abstellten. Die Rue du Pont, in der sich sein
Buchladen befindet, konnte damals noch in beide Richtungen befahren werden. Die
meisten Läden standen leer, es gab weder Cafés noch Kunstgalerien. "Die
Stadt, vor allem die Unterstadt, war völlig tot", erzählt Christian. Nach
einem Jahr hatte das Ehepaar genug von diesem Dornröschenschlaf, in den der Ort
gefallen war. Sie brauchten mehr Kunden und die Stadt mehr Touristen.

So präsentierte er dem Bürgermeister sein Projekt der
"Stadt der Bücher", und dieser war bereit, das Unternehmen finanziell
zu unterstützen. Sein Ruf innerhalb der Bücherwelt – Christian arbeitet unter
anderem als Experte für alte Manuskripte, die im Pariser Versteigerungshaus Drouot
unter den Hammer kommen – und seine guten Kontakte sorgten für den Erfolg.
Bereits im Jahr 1996 gründete er den Salon für alte Bücher, und vier Jahre
später war aus der Rue du Pont eine beruhigte Verkehrszone geworden, in der sich
ein Buchladen neben dem anderen befindet, sowie gemütliche Cafés, kleine
Feinschmeckergeschäfte und ein Weinladen mit erlesenen Tropfen.

Eine der ersten, die dem Ruf Christians folgten, war Maika
Le Grand-Billy. Ihre Buchhandlung "L’arbe de Jesse", der Baum Jesse,
liegt genau gegenüber dem prächtigen barockisierten Turm Tour St. Croix. Ihre
Vorliebe gilt esoterischen und philosophischen Themen, aber auch Büchern über
Zen und Japan, die sie überall in der ehemaligen Metzgerei gestapelt hat. Sogar
deutsche Titel wie "Naturkosmetik mit Edelsteinen" sind in den vollen
Holzregalen zu finden.[pagebreak]

"Ich bedaure meine Entscheidung nicht. Unsere Präsenz
hat zu einem neuen Image der Stadt geführt und zu einem gewissen
wirtschaftlichen Aufschwung", erklärt die Französin und Präsidentin von
"Seyr Livres". In der im Jahr 2000 gegründeten Vereinigung sind alle
im Ort ansässigen Buchhändler und Berufe versammelt, die mit dem geschriebenen
Wort zu tun haben. Seyr bezieht sich auf den ursprünglichen Namen der einst
karolingischen Siedlung, die im 11. Jahrhundert während des Baus der
Klosteranlage auf den heutigen Namen La Charité-sur-Loire (Charité =
Nächstenliebe, Barmherzigkeit) umgetauft wurde.

Seit die Pariser Buchhändler mit ihren bunten
Schaufensterauslagen und den pittoresk klingenden Namen ihrer Läden wie
"Le Monde à l’envers" (Die Welt verkehrt herum), "Là, où dort le
chat" (Dort, wo die Katze schläft) oder "Les Palmiers Sauvages"
(Die wilden Palmen) in die Straßen von Charité-sur-Loire eingezogen sind, ist die
Anzahl der Touristen beachtlich gestiegen. Denn es gibt nun nicht mehr nur das
bedeutende Kloster zu besichtigen, das als die erstgeborene Tochter Clunys
bezeichnet wird, die prächtige romanische Kirche Notre-Dame mit einem
Langschiff von riesigen Ausmaßen, fünf Schiffen und zehn Jochen. Das Stöbern in
diesen herrlich bunten Bücherhöhlen dauert Stunden, wenn nicht Tage. Allein bei
Christian Guillaume stehen rund 60 000 Bücher in den Regalen.

John Crombie gehört sicherlich zu einem der originellsten
und letzten manuell arbeitenden Typografen Frankreichs. Der 68-jährige
Schriftsetzer gab 2003 sein Pariser Atelier im Montparnasse-Viertel auf und zog
mit seinen rund 20 Kilogramm schweren Kästen voller Blei gegossener Buchstaben
in die Rue du Pont, Nr.2, ein – nur wenige Schritte von der Buchhandlung des
Christian Vallériaux entfernt. Seine Ladentür steht immer weit offen: Jeder
kann ihm über die Schulter schauen, wenn er peinlich genau die Buchstaben mit
einer Pinzette hintereinander spiegelverkehrt und auf dem Kopf stehend in einen
Winkelhaken legt. Mit Hilfe des Hakens werden die Buchstaben zu Zeilen
aufgereiht. Seine Spezialität: kleine würfelförmige Bücher, die sich von innen
heraus aufklappen lassen.[pagebreak]

"Wir wollen, dass der Tourist im wahrsten Sinne des Wortes
in die Welt des gedruckten Wortes eintaucht. Deshalb war es wichtig, Berufe wie
Setzer, Buchbinder oder Kalligrafen an unserem Projekt zu beteiligen. Die
bieten unter anderem auch Wochenendkurse an", erzählt Christian. Jetzt
wünscht sich der Projektinitiator der "Stadt der Bücher" noch, dass
auch Händler neuer Bücher und Medien den Weg nach La Charité-sur-Loire finden.
Immerhin liegt der Ort an der berühmten Pilgerstrecke Jakobsweg, der ins
spanische Santiago de Compostela führt.

Das dürfte nur noch eine Frage der Zeit sein: Denn in Paris müssen immer
mehr Buchläden aufgrund der überteuerten Mieten schließen. Das Viertel
Saint-Germain-des-Prés, das noch von seinem Ruf als Literaten- und
Intellektuellen-Viertel zehrt, wird immer mehr von Edelboutiquen überschwemmt.
So könnte längerfristig aus der mittelalterlichen Loire-Stadt eine Pilgerstadt
des Buches werden. (dpa)

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