Wunderbarer Regenwurm
admin | Posted 26/03/2008 | Belletristik | Keine Kommentare »
Im Mai 2008 wird Urs Widmer 70. Seite 4 gratuliert dem fantastischen Erzähler zum Geburtstag – und zum neuen Buch über den Künstler Valentin Lustig.
Es war einmal, lange, lange, bevor das so genannte neue Erzählen an die Tür der deutschsprachigen Literatur klopfte und bald als neue Errungenschaft gefeiert werden sollte, ein Basler aus Zürich oder ein Zürcher aus Basel, dem das Erzählen so natürlich kam wie das Atmen.
Vielleicht bemerkten seine Leser deshalb gar nicht, dass Urs Widmer etwas Unerhörtes tat, dass er entweder als zeitloser Erbe einer uralten, ursprünglich mündlichen Tradition unbeschadet durch die Gewässer der Moderne segelte oder als Pionier einer neuen Zeit bereits an neuen Ufern Anker legte.
Wenn man die Romane, die Theaterstücke und die Essays, darunter auch die im Herbst 2007 erschienenen Frankfurter Poetikvorlesungen anschaut, wird bald klar, dass Urs Widmers Erzähltemperament gar nicht anders kann, als aus jedem Bild, jeder Metapher, jedem Gedanken, jedem Einfall und jeder Beobachtung eine Geschichte zu machen.
Und zwar eine, die man nicht mehr so schnell vergisst.
Selbstironisch kündet er zu Beginn seiner ersten Poetikvorlesung an, er habe vor, eine “weit gehend anekdotenfreie Vorlesung” zu halten – und schon sitzt man mit Widmer junior und senior (dem nicht nur durch “Das Buch des Vaters” von 2004 bekannten Übersetzer Walter Widmer) und einem “Riesenklumpen” Bündnerfleisch im Auto, unterwegs zur Frankfurter Buchmesse, wo der junge Dichter “auf einen Schlag die ganze Nomenklatur der damaligen deutschen Literatur kennen lernte.”
Doch wenn Urs Widmer “nur” ein guter Anekdotenerzähler wäre – was ja doch immerhin eine bewundernswerte Kunst ist -, würde man über seine Geschichten lachen und sie auch schnell wieder vergessen.
Das Faszinierende, immer wieder, an Widmers Texten ist die Art, wie er seine melancholische, sensible, differenzierte und kritische Sicht der Welt mit einer geradezu übermütigen Lust am pointierten Formulieren kombiniert.
Manchmal schaut er mit erwachsenen Kinderaugen und kindlichen Erwachsenenaugen, in seinem Meisterwerk “Der blaue Siphon” (1992) zum Beispiel, oder er versetzt sich in “Mein Leben als Zwerg” (2006) in die Lage einer Spielzeugfigur – wobei der Anfang der Geschichte einer dieser Widmer-Anfänge ist, von denen man immer noch mehr lesen möchte:
“Ich heisse Vigolette alt. Ich bin ein Zwerg. Ich bin acht Zentimeter gross und aus Gummi.” Bei aller Klarheit liesse sich über diese drei Sätze endlos philosophieren, allein über die Gottergebenheit, mit der Vigolette alt die Zuschreibungen der Menschen bis ins Metrische übernimmt.
Doch auch wenn Urs Widmer weder die Umgebung seiner Protagonisten ver-rückt noch die Sicht des kleinsten möglichen Beobachters einnimmt, sondern als Urs Widmer, Schriftsteller, Poetikvorlesungen hält, in einen Dialog mit den Bildern des Künstlers Valentin Lustig tritt (im April erscheint “Valentin Lustigs Pilgerreise. Bericht eines Spaziergangs durch 33 seiner
Gemälde”) oder als Urs Widmer, Schriftsteller und Staatsbürger, mit Moritz Leuenberger debattiert – immer steht er auf seinem eigenen Aussichtsturm.
Nahe genug, um alle Details in ihrer kuriosen Verzerrung zu erkennen, und immer mit der Distanz des Geschichtenerzählers, der die Dinge in den grossen Zusammenhängen zu sehen vermag.[pagebreak]
Er erzählt aus Notwendigkeit, weil ihm sein Atem den Rhythmus vorgibt, aber nicht nur – er tut es auch aus wohl überlegten Gründen. Anders als jede begriffliche, diskursive Rede erlaubt das literarische Erzählen die Auseinandersetzung mit der Ambivalenz des Menschen.
Der metaphorische Zugang, heisst es in der zweiten Poetikvorlesung, sei die einzige Möglichkeit, in einem unerforschten Gebiet doch noch zu Erkenntnissen zu kommen: “Die Literatur … muss die Welt der Begriffe integriert haben und sich in einem Unerforschten aufhalten, das nicht andere längst ausgeleuchtet haben.”
WAS IST DER MENSCH?
Literatur als Methode der Erforschung von allem, was der Mensch nicht, noch nicht oder nicht mehr zu denken imstande ist, darum geht es Widmer, wobei er seinen Lesern nie das Gefühl gibt, anstrengende neue Erkenntnisse verdauen zu müssen.
Im Gegenteil: Seine Sätze sind von einer Klarheit, die suggeriert, man habe das alles auch schon einmal gedacht, vielleicht einfach, ohne es zu merken. Zum Beispiel, wenn er von den drei Kränkungen der Menschheit spricht, durch Kopernikus, Darwin und Freud.
Jede von ihnen habe eine “angstbannende Gewissheit über den Haufen” gerannt – was bei der vierten kaum möglich sein wird, weil sie das Verschwinden der Menschheit betrifft.
Finstere Aussichten. Die gehören bei Urs Widmer auch dazu. Doch solange der Mensch noch da ist und über eine Sprache verfügt, kann er sich immer wieder neu erfinden, mithilfe der Literatur.
Auch dafür findet Urs Widmer eine unerwartete, dafür umso einprägsamere Metapher: “Vielleicht sind … die Dichter auch heute für die Sprache so etwas wie das, was die Regenwürmer für die Erde sind.” Dem humor- und fantasievollsten Regenwurm weit und breit herzliche Gratulation zum Geburtstag!
Urs Widmer
Valentin Lustigs Pilgerreise
Bericht eines Spaziergangs durch 33 seiner Gemälde.
Diogenes, 144 Seiten, erhältlich ab April 08