Verwandte Gefühle
admin | Posted 12/07/2008 | Belletristik | Keine Kommentare »
Dagmar Schifferli ist Autorin und schreibt ihre Bücher in einem
Schreibzimmer, das vor der Öffentlichkeit abgeschirmt wird. Niemand
weiss, wo sich diese vier Wände in Zürich befinden.
Kein Telefon, kein Fernseher und kein Internet. Dafür ein Tisch, ein Feldbett und ein Laptop. Das ist das Schreibzimmer der Schriftstellerin Dagmar Schifferli, dessen Standort niemand kennt, ausser sie. Trotz hartnäckigem Fragen, gibt sie nur soviel preis: "Wenn die Uetlibergbahn pfeift, höre ich es."
Hier schreibt und denkt sie, abgeschottet vom Geschehen dieser Stadt. Verwandte Gefühle lautet der Titel des aktuellen Buches, das in den besagten vier Wänden entstand ist. Während andere Autorinnen und Autoren in Irland, auf Ibiza oder im Chalet tippen und tüfteln, reicht ihr das Zimmer als kreative Insel.
Auf die Frage nach dem Grund dieses versteckten Schreibens, erklärt sie, dass sie Ruhe und Abgeschiedenheit für ihre Arbeit brauche. Natürlich seien Reisen für Recherchen unablässig, wie es bei Büchern mit historischem Inhalt besonders notwendig seien. Ideen kämen ihr beim Schuhebinden oder beim Warten an der Bushaltestelle.
Neue Stoffe und Themenvariationen keimen oder fallen ihr überall zu, "die Muse küsst unerwartet und überall". Sie trägt deshalb immer einen Notizblock bei sich. Doch für das Auswerten der Daten, für das Verfassen des Textes käme ihr die Möglichkeit, unbehelligt arbeiten zu können sehr entgegen. Sie versuchte es auch schon mal mit einem Zimmer in einem Bergdorf aber das sei dann doch nichts gewesen.
Die strahlende Sonne und vorbeiziehende Wandergruppen liessen sie im düsteren Raum nicht zur Ruhe kommen, zumal sie ja ebenso gerne wandere. Hingegen in diesem Zürcher Schreibzimmer finde sie die richtige Ruhe und Abgeschiedenheit. Der Raum sei eine Art Schutzmantel, der sie beschützt und vor Unbill des hektischen Alltags in Ruhe lässt. Es wäre für sie wie ein körperlicher Übergriff, wenn Fremde ihr Schreibzimmer entdeckten, nicht mal gute Freunde würden Einlass bekommen.
Schreiben ist Arbeit
Schreiben ist für Dagmar Schifferli ein hochkonzentriertes Arbeiten. Mit den eingefangenen Eindrücken und vagen "luftigen" Visionen richtet sie sich im Schreibzimmer ein und beginnt Konzepte zu entwerfen. Ins Leere schreiben und sich überraschen lassen, wohin der Text sie führen könnte, ist nicht ihre Art. Sie arbeitet mit einem durchdachten Raster, der natürlich je nach gesammelten Daten und neuen Ideen wieder verändert wird. Das Experimentieren mit Worten und Gedanken, aber auch die Tageszeiten spielen in der Formung des Textes eine Rolle. Manchmal führt sie ein schriftliches Selbstgespräch, in dem sie versucht, Bilder und Geschichten reifen zu lassen.
Dagmar Schifferli, 1951 geboren, wuchs in Albisrieden auf und widmete sich dem Studium der Sozialpädagogik, Psychologie und Gerontologie. 1996 sorgte sie mit einer Romanbiografie über Anna Pestalozzi-Schulthess für viel Diskussionstoff und ihr Bekanntheitsgrad wuchs über die Landesgrenze hinaus. Weitere Werke sind erschienen, unter anderem wieder ein Roman über ein Frauenleben. Diesmal betraf es Wiborada, eine Ostschweizer Inklusin im Mittelalter. Sie war die erste Frau, die offiziell von einem Papst heilig gesprochen wurde und wird als Schutzheilige der Bibliotheken verehrt. Verwandte Gefühle, Schifferlis letztes Buch, erzählt feinfühlig über das Verhältnis zwischen Nelly Stoll, die mitten im erfolgreichen Berufsleben steht und der 80jährigen Tante und frühere Ersatzmutter Martha, die durch ihre Verinnahmung immer mehr die persönliche Freiheit ihrer Nichte raubt. Das Buch thematisiert den Umgang mit alten Menschen sowie die Frage nach den Grenzen unserer Verpflichtung gegenüber anderen.
Urs Heinz Aerni