Bettlektüre
admin | Posted 11/10/2008 | Preise und Events | Keine Kommentare »
Oft gesagt – und wirklich wahr: Lesen ist besser als Fernsehen. Andreas Thiemann hat es im Selbstversuch getestet. Alles begann mit der Renovierung unseres Schlafzimmers.
Die alte Kommode kam raus, das Bett wurde über Eck gestellt, ein neuer Kleiderschrank begrüßt – und plötzlich war kein Platz mehr für
den Fernseher. Wir erwogen Wandhalterungen und Deckenlösungen nach Krankenhaus- oder billigen Hotelzimmervorbildern.
Doch schaffte es kein Vorschlag in die engere Wahl.
Meine handwerklich begabte Frau schlug vor, am Fußende des Bettes eine Konsole zu bauen, aus der mit ausgeklügelter Technik sich der Fernseher wie Kai aus der Kiste erheben könnte. Ich blieb skeptisch.
So gingen die Tage ins Land. Ohne Fernseher im Schlafzimmer und ohne mediales Patentrezept. Immerhin war mir ein Nachttischchen geblieben.
Darauf lagen auch noch nach der Renovierung einige Bücher, sorgsam, aber ohne sonderliche Lese-Absicht gestapelt. In Ermangelung des architektonisch verbannten Fernsehers griff ich zum Buch – und hatte Glück.
Das Thema interessierte mich, die Geschichte war unterhaltsam, ja sogar spannend geschrieben. Ich blieb hängen. Minutenlang und länger.
Meine Frau signalisierte Ungeduld und drängte ihrerseits auf Schlaf versprechende Dunkelheit. Wir einigten uns auf einen zeitlichen Kompromiss.
Am nächsten Abend war ich besser vorbereitet und zauberte gleich zu Beginn eines sich abermals anbahnenden Disputs eine Schlafbrille hervor. Meine Frau war verblüfft, doch nicht abgeneigt, das neue Utensil zu testen.
Der Lese-Abend brachte mich in ferne Länder, versetzte mich in frühere Zeiten, und die Müdigkeit kam entsprechend spät. Anders aber
als beim Fernsehen füllte ich mich dennoch am nächsten Morgen angenehm ausgeruht.
Ich fand Gefallen an der abendlichen Bettlektüre und vergaß sogar in der Programmzeitschrift nachzuschauen, was ich möglicherweise um Mitternacht noch im Fernsehen verpassen könnte. Vor der Renovierung wäre mir das nicht passiert.
Überhaupt, so stellte ich fest, entließ mich der Fernseher, Buch um Buch, aus seiner Sklaverei. Ich ertappte mich sogar dabei, dass ich schon am frühen Abend im Wohnzimmer dem bewegten Bild im Apparat kaum Bedeutung beimaß, dafür aber die literarischen Bilder in meinem Kopf nicht mehr missen mochte.
Gemütliches schmökern
Hatte ich mit dem zufälligen Nachttisch-Buch begonnen und danach vorsichtshalber einen Band mit Kurzgeschichten ausgesucht, wagte ich mich nun auch an korpulentere Werke. Ich übersprang schnell die 300-Seiten-Hürde, bemerkte kaum, dass das nächste 400-Seiten-Buch sehr viel kleiner gedruckt war und bot schließlich sogar einer Napoleon-Biografie auf mehr als 1000 Dünndruck-Seiten die vornächtliche Stirn.
Portionsweise bezwang ich den eitlen Franzosen in überschaubarer Frist – und galt in den nächsten Wochen im Freundeskreis als unangefochtener Experte historischer Zusammenhänge des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts.
Inzwischen habe ich weite Teile des abenteuerlichen Mittelalters literarisch bereist, dann und wann unterbrochen durch einen spannenden Gegenwartskrimi aus Skandinavien.
An Nachschub gibt es keinen Mangel, und – anders als beim Fernsehen – muss ich auch keine Wiederholungen fürchten. Das gute alte Medium hat über die elektronische Welt der 100 Programme gesiegt.
Aber ich muss jetzt Schluss machen, ein neuer Roman wartet auf mich.
Text: Andreas Thiemann für die Printausgabe von Seite 4