Lauter Verrückte!
admin | Posted 23/12/2008 | Autoren | Keine Kommentare »
Schreibexzentriker Ulrich Holbein geht bizarren Lebensläufen nach und
zeigt, was Menschen sich und anderen antun können. Der Kulturchef der Westfälischen Rundschau Bernd
Berke hat sich den Wahnsinn angeschaut.
Jetzt wollen wir’s aber wissen: Welches Buch hat in dieser Saison wohl die größte thematische Spannweite?
Und welcher Band versammelt in hoch konzentrierter Form den meisten Wahnsinn? Da mag es einige Kandidaten geben, doch die reichhaltigste Fundgrube in beiderlei Hinsicht dürfte das "Narratorium" sein.
Sollte eines Tages etwas gründlich schiefgehen, so ließen sich allein aus diesem Buch so manche Phänomene rekonstruieren.
Man könnte es gut und gerne "außerirdischen Existenzen" überreichen. Wären sie lesekundig, so wüssten sie dann schon ganz gut über unsere grässliche, groteske, grandiose Gattung Bescheid.
Im Titel "Narratorium" klingt Doppelsinn an: Es geht um schier unerschöpfliche Vorräte an Erzählstoff (also narrative Qualitäten), zugleich aber um Narretei und Besessenheit jeder denkbaren Sorte.
Da steht nun der finstere Terrorfürst Osama bin Laden neben einem Fuzzi wie Dieter Bohlen, der erzpessimistische Denker E. M. Cioran neben der erotischen Tanzikone Josephine Baker, Jesus neben Hitler, Klaus Kinski neben Kafka, Joseph Beuys, Bhagwan, Rudolf Steiner, Janis Joplin oder Prinz Charles. Und so weiter.
Gütiger Himmel, hilf!
Der enzyklopädisch belesene, allzeit scharfzüngige Autor Ulrich Holbein hat offenkundig recherchiert wie ein Berserker.
Er ist in Auswahl und Darstellung nicht zimperlich; er jagt echte Genies (zum Beispiel den Romancier Jean Paul), Visionäre und Apostel, doch auch Diktatoren und Mörder durch sein Panoptikum.
Holbein hat ein radikal subjektives, verstörendes, höchst unterhaltsames Lexikon der "Verrückten" aus zweieinhalbtausend Jahren Menschheitsgeschichte zusammengetragen.
Die Meisten haben tatsächlich auf Erden gelebt, einige der Porträtierten sind fiktiv, haben aber das kollektive Bewusstsein geprägt.
Man lernt hier bizarre Leute kennen, von denen man noch nie gehört hat.
Und über die, von denen man schon etwas wusste, erfährt man oft noch Bestürzendes.
In rasanten, stark zugespitzen Porträts filtert Holbein die Essenz von 255 größtenteils irrwitzigen Lebensläufen, garniert mit typischen Zitaten und Selbsteinschätzungen der Beschriebenen.
Da kommt man aus dem Kopfschütteln oft gar nicht mehr heraus.
Religiös, aber auch weltlich Verzückte und Verirrte aller historisch verbrieften Zeiten betreten da die Bühne; ferner Schamanen und Sonderlinge, Weltverbesserer, Gurus, Exzentriker, Extremisten, Unholde, Verbrecher und überhaupt auffällige Gestalten jeder Schattierung.
Wir greifen nur mal willkürlich ein einziges Beispiel heraus, nämlich den irrlichternden Freigeist namens "Mynona" (alias Salomo Friedlaender), der von 1871 bis 1946 sein schrilles Wesen getrieben hat.
Dieser Mann, den man mit Fug und Recht randständig oder gar schizophren nennen könnte und der doch auch etwas Genialisches
hatte, dachte sich mit diabolischer Akribie Methoden zur "kunstgerechten Kreuzigung von Heilanden" aus, schrieb Abhandlungen über die "Funktion der Milz auf der dritten transzendentalen Ebene" sowie über "Stimmbandverkümmerung in der Vagina von Hermaphroditen."
Nanu? Wer faselt mehr als dieser Kobold? Zudem focht Mynona leidenschaftlich für die Nicht-Verbesserung von Druckfehlern und verlangte im Laden Toilettenpapier mit Trauerrand.
Genug, genug. Es ist nur ein winziger Bruchteil seiner gehäuften Absonderlichkeiten.
Jetzt rechnen Sie das mal auf 255 Lebensläufe hoch! Dass Mynonas Biografie in der NS-Zeit eine tief tragische Wendung nahm, verleiht
der Darstellung weit über die kuriosen Aspekte hinaus historische Tiefenschärfe.
Genau diese Einordnung in größere Zusammenhänge ist die besondere Stärke des Buches.
Ulrich Holbein ist ein Durchblicker und Bescheidwisser sondergleichen und klingt daher manchmal selbst ein wenig hochmütig. Geschenkt.
Und der Nutzen seines gesamten Kompendiums? Wenn man das Buch durchgelesen hat, darf man glücklich erschöpft feststellen:
Man hat gedanklich den ganzen Kreis dessen durchschritten, was Menschen mit sich und anderen anrichten können.
Auch lernt man ausgiebig, mit welchen Ideen und Taten sich Menschen im Lauf der Zeiten verführen ließen.
So erkennt man womöglich die Muster wieder und wappnet sich gegen böse Wiederholungen. Folglich taugt das Ganze auch als Schullektüre.
ABGEDREHT
Diese ungeheure alphabetische Ansammlung erträgt man allerdings nur dosiert.
Schon einzelne Lebensbilder strapazieren Toleranzbereitschaft und Vorstellungsvermögen, nötigen aber auch immer wieder ungläubiges Staunen ab über ungeahnte Grenzgänge des Lebens.
Wer man auch sei: Am Ende dieser aufregenden Lektüre kommt man sich selbst in aller Bescheidenheit wohl fürchterlich "normal" vor.
Wenn das kein Zugewinn an höherer Weisheit ist!
Text: Bernd Berke für die Printausgabe von Seite 4
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