Im Schlamm sind alle gleich

Petra Bohm | Posted 07/08/2009 | Dossier/Akten | Keine Kommentare »

Vom 15.-17. August 1969 fand das legendärste Open-Air-Festival aller Zeiten statt: Woodstock. Drei Tage und Nächte lang Friede, Freiheit, Rock’n'Roll – trotz heftiger Regengüsse, Stromunterbrüchen, Lebensmittelknappheit und langer Schlangen vor den Toiletten …

Eigentlich war Woodstock ein grandioses Missverständnis. Ein spektakuläres Fiasko. Mehr noch: Genau genommen fand Woodstock gar nicht statt. Jedenfalls nicht im idyllischen Künstlerkaff Woodstock selber, dem Wohnort von so illustren Musikern wie Bob Dylan, The Band und Tim Hardin, sondern auf einem Farmgelände im gut 70 Kilometer entfernten Bethel. Der Name Woodstock wurde gewählt, weil der Ort dank seiner prominenten Bewohner einen weitherum wohlklingenden Namen hatte, der die Hippies aus dem nahen New York aufs Land locken sollte. Und sie kamen, die Hippies, in Massen und von überall her, und das war der Beginn einer drei Tage währenden Katastrophe, bei der so gut wie alles schief ging, was an einem Festival schief gehen kann. Statt der erwarteten 60000 Leute machten sich eine gute Million auf den Weg, über die Hälfte blieb glücklicherweise auf den verstopften Zufahrtsstrassen stecken, und die 400000 Glücklichen, die das Gelände erreichten, mussten mangels genügend Kassenhäuschen gratis eingelassen werden. Die Infra struktur war dem Ansturm nicht gewachsen: Die Warteschlangen vor den nur 600, bald schon grässlich stinkenden Toiletten waren endlos, und auch Trinkwasser und Lebensmittel mussten notfallmässig von den Bauern und einer Hippiekommune aus der Umgebung (und von der Armee per Hubschrauber) geliefert werden, um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern. Besonders berühmt sind die starken Regengüsse, die viele Konzerte unterbrachen und für Verzögerung sorgten – und die legendären Schlammschlachten erlaubten. Wieviele Besucher wieviel von den Auftritten von Joan Baez, Canned Heat, The Band, Janis Joplin, Sly and the Family Stone, Jefferson Airplane, The Who, Jimi Hendrix, Grateful Dead, Tim Hardin, Crosby, Stills, Nash & Young etc. mitkriegten, ist angesichts einer auf ein viel kleineres Publikum ausgerichteten Verstärker anlage auch fraglich. Wobei dies vielleicht gar nicht so schlimm war – etliche Musiker, so etwa Creedence Clearwater
Revival oder Johnny Winter untersagten die Verwendung der Aufnahmen für den Film und das Dreifach Album, weil sie ihre Auftritte zu schwach für die Ewigkeit fanden …

Gegenkulturelle Illusionen
Und doch ist Woodstock der unbestrittene Inbegriff des Open-Air-Festivals. Dabei gab es vor und nach Woodstock bedeutendere und interessantere Anlässe. Das erste grosse Rockfestival hatte zwei Jahre zuvor,im Juni 1967, im kalifornischen Monterey stattgefunden. Monterey war der Moment, wo der Underground seine Unschuld verlor und die Hippiekultur zum Mainstream wurde. Nach Monterey erhielten so gut wie alle auftretenden Bands – zum Teil die gleichen, die auch in Woodstock zu sehen waren – dicke Plattenverträge und wurden in der Folge von grossen Musikkonzernen wie CBS in die internationalen Charts gepusht. Im August 1969 hatte die Hippieszene nicht nur ihre Unschuld verloren, sondern auch den Zenith ihrer gesellschaftlichen Mobilisierungskraft überschritten. Wenig später, im Dezember 1969, mutierte die «Friede, Freude und Freiheit»-Idylle
am Altamont Free Concert zum Albtraum, als ein Hells Angel während des Konzertes der Rolling Stones vor der Bühne einen Zuschauer erstach. Bald setzte auch das grosse Sterben der Hippieikonen ein (Jimi Hendrix, Janis Joplin und Jim Morrison), und der hoffnungsvolle Aufbruch verirrte sich, zugespitzt formuliert, auf dem langen Marsch durch die Institutionen.
Im August 1969 war es aber noch möglich, sich der Illusion einer heilen Gegenwelt hinzugeben, in der man sich gegen das böse Establishment verschwörte und sich stark und zahlreich genug wähnte, um die bessere Welt von morgen zu schaffen.
Chaos und Mythos Woodstock wurde aber auch aus anderen Gründen zum Mythos. Die Musik spielt dabei – wie bei allen Open-Air-Festivals – eine untergeordnete Rolle. Das Programm von Woodstock war für die damalige Zeit nicht einfallsreicher als es Sankt Gallen und das Gurtenfestival heute sind. Es spielten die Bands, die man an so einem Anlass erwarten durfte. Nein, Woodstock wurde zum Mythos, weil Woodstock eine Katastrophe war. Nicht die berechenbaren und durchgerechneten Erfolge werden zu Legenden – wirklich interessant ist vielmehr das Unvorhergesehene, das Ungeplante, das Chaos, die Katastrophe, in der etwas entsteht, das grösser ist und bedeutender, als man es sich hätte träumen lassen. Aus diesem Grund steht Woodstock (und nicht das musikalisch weit relevantere Monterey) sinnbildlich für den Zeitgeist jener Generation. Wer hätte es
noch wenige Jahre zuvor für möglich gehalten, dass Millionen Menschen friedlich gegen den Vietnamkrieg auf die Strasse gehen und sich für die Bürgerrechte einsetzen würden? Wer hätte gedacht, dass aus den Hippies eine Massenbewegung würde?
Deshalb hat seit Woodstock kein Festival, egal wie gross es ist, eine vergleichbare Symbolkraft entfalten können. Die genau kalkulierten und von Sponsoren abgesicherten Sommerfestivals von heute haben mit Woodstock so wenig gemein wie der Musikantenstadl mit einer Stubete im Schächental. Nur wenn es regnet, ruft die obligate Schlammrutschete den viel beschworenen Geist von Woodstock wach. Aus dem Schlamm stammen wir, im Schlamm sind wir alle gleich. Und in der Warteschlange vor den Toiletten.

Autor Christian Gasser ist freier Schriftsteller und Journalist. Der 1963 geborene Pop-Besessene Gasser hat nicht nur
Woodstock verpasst, sondern macht bis heute um so gut wie jedes Open-Air-Festival einen weiten Bogen.
Letzte Buchveröffentlichung: «Blam!Blam! Und Du bist tot!» (Edition Tiamat, Berlin).
Mit freundlicher Genehmigung von Orell Füssli , CH

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