Roman über Lagerhölle: Sprache gegen Auslöschung
Books | Posted 25/08/2009 | Belletristik | Keine Kommentare »
München (dpa) – Zwei Hauptfiguren hat Herta Müllers neuer Roman «Atemschaukel»: Den am Anfang 17-jährigen Ich-Erzähler Leo, der von fünf Höllenjahren in einem sowjetischen Arbeitslager berichtet.
Und den «Hungerengel», Leos allgegenwärtigen Begleiter, der ihn und seine Leidensgefährten im Würgegriff hält: «Ich wollte langsam essen, weil ich länger was von der Suppe haben wollte. Aber mein Hunger saß wie ein Hund vor dem Teller und fraß.» Auch lange nach der Rückkehr in die rumänische Heimat und ohne Hunger herrscht der «Hungerengel» unangefochten weiter: «Ich esse seit meiner Heimkehr aus dem Lager, seit sechzig Jahren, gegen das Verhungern.»
So gesagt haben könnte das Herta Müllers Mutter, die 1945 wie Zehntausende andere als Siebenbürger Sachsen – «Volksdeutsche» – zu fünf Jahren Zwangsarbeit in die Ukraine in der damaligen Sowjetunion verschleppt worden war. Aber die Mutter der 1987 aus ihrer rumänischen Heimat nach West-Berlin übergesiedelten Schriftstellerin hat über diesen tabuisierten Teil ihres Lebens nur wenig berichtet.
Intensiv über die Lagerzeit sprechen konnte Müller hingegen mit dem Schriftsteller Oskar Pastior. Eigentlich hatten beide ein Gemeinschaftswerk geplant, aber dann starb Pastior 2006 unerwartet, kurz bevor ihm der schon zuerkannte Büchner-Preis überreicht werden sollte. In ihrem Nachwort schreibt Müller, sie habe sich erst nach langem Zögern durchringen können, «das Wir zu verlassen und allein einen Roman zu schreiben». Ohne Oskar Pastiors Details aus dem Lageralltag hätte sie es nicht gekonnt. Im Wesentlichen dürfte seine Stimme im Roman die Leos sein.
Müller hat sich die schwere Aufgabe aufgeladen, Extremerfahrungen anderer mit permanentem Hunger bei schwerster Zwangsarbeit und lebensbedrohlicher Gefangenschaft nur wegen der Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit literarisch zu verarbeiten. Bewältigen konnte sie das vor allem dank ihrer sprachlichen Meisterschaft. Die Autorin wurde 1953 geboren, drei Jahre nach der Heimkehr ihrer Mutter aus dem Lager. Für den Bericht des jungen Mannes aus Siebenbürgen über die Leiden des Lagerdaseins hat sie einen atemberaubend klaren, immer nach größter Einfachheit und Dichte strebenden Ausdruck gefunden.
Die Sprache entfaltet fast lyrische Kraft, wenn etwa sachlich und detailliert – und damit umso erschütternder – die Schrecken des Schleppens von Zementsäcken geschildert werden. Oder wenn Leo in einem der 64 kleinen, selbstständigen Kapital berichtet, wie der Anwalt Paul Gast seiner Frau so anhaltend ihre Essensration stiehlt, dass sie am Ende verhungert.
«Es gibt Wörter, die mit mir machen, was sie wollen», schreibt Leo und berichtet, wie er nach und nach auch das Heimweh und den Sinn für diesen Begriff verliert. Der Verlust von Individualität und allem Menschlichkeit wird hier nicht lapidar, aber immer nüchtern, mit höchster sprachlicher Klarheit und gerade dadurch tief bewegend dargestellt. Auch wenn es um die Auslöschung aller Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Verschleppten geht, weil es für alle nur noch ein Thema gibt: «Meine Beziehung zur Welt ist das Essen.»
Müllers großartige Leistung in ihrem neuen Roman besteht auch darin, durch sprachlich kunstvoll aufgearbeitete Erinnerung einen Teil der ausgelöschten Individualität wenigstens auf dem Papier für die Opfer zurückzuerobern. Deshalb ist die «Atemschaukel» mehr als «noch einer» von zahllosen nachgetragenen Erlebnisberichten aus den Lagern Stalins oder Hitlers.
Der Ungar Imre Kertész bekam 2002 den Literaturnobelpreis für seine Aufarbeitung der eigenen Auschwitz-Erfahrung. Literatur, die auf hohem literarischen Niveau «Zeugnis ablege», werde wohl künftig stärker bei der Auswahl von Preisträgern ins Blickfeld kommen, meinte der Sprecher der Schwedischen Akademie damals. Nach der Lektüre der «Atemschaukel» wird klarer, warum die Stockholmer Juroren Herta Müller schon seit Jahren zum Anwärterkreis rechnen.