Berliner Sex und andere Gefühle: Kraussers krasse Momentaufnahme
Petra Bohm | Posted 22/09/2009 | Belletristik, Politik und Gesellschaft | Keine Kommentare »
Schon der Titel klingt unwiderstehlich: «Einsamkeit und Sex und Mitleid»…
Und es ist auch kein Etikettenschwindel, denn von der ersten bis zu letzten Seite geht es in dem neuen Buch von Helmut Krausser eben genau darum. Der 45-jährige Autor schreibt über Berliner und Berlinerinnen und deren Versuche, einen Partner zu finden. Das liest sich überwiegend finster, dabei oft aber auch sehr komisch.
Die 15-jährige Swentja bekommt plötzlich per SMS 100 Euro für Oralsex von einem unbekannten Mahmud geboten. Die energische Managerin Julia serviert ihren sexuell leistungsstarken, aber beruflich ziemlich schlaffen Ehemann Uwe an Heilig Abend ab, weil sie sich «ohne ihn einfach besser fühlen würde»: «Geh von mir aus in den Puff. Mach dir eine schöne Zeit.» Der obdachlose Punk Holger schwängert die obdachlose Sybille in ihrem Schlafsack. Der verheiratete Firmenchef Thomas und seine viel jüngere Geliebte sowie Angestellte Carla provozieren vor einer schnellen Nummer mal eben türkische Kids zu einer Schlägerei. Weil die ja nicht wissen können, dass Carla Meisterin im Kickboxen ist und gern zuschlägt. Beide turnt das an.
Zu ihrer eigenen Verwunderung entdecken etliche dieser Glücksjäger aber auch, dass ganz andere Bedürfnisse in ihnen schlummern als pure Lust auf Sex. So kämpft der Chef einer Lebensmittelabteilung plötzlich um das Recht seiner Hartz-IV-Kundschaft, billig Wurstreste und Käsekanten kaufen zu können. Und Swentja und ihr Mahmud kommen sich auch ohne das Geschäft mit dem Oralsex näher.
Alles in allem aber führt Krausser ein rabenschwarzes Kaleidoskop von Hauptstadtbewohnern vor. Ob sie nun als verarmte Punks mal eben Schrebergärten-Häuschen in Beschlag nehmen und verwüsten oder im vornehmen Charlottenburg als Karriere-Frau am Sonntagmorgen einen Call-Boy wie den letzten Dreck behandeln. Oder Thomas, der Chef der viel jüngeren Geliebten Carla, als sie ihn abserviert hat: «Wie um sich eine Würde zu erschleichen, die er nicht besaß, tat er so, als habe auch er mit Carla abgeschlossen, als füge er sich in seine neue Rolle des befreundeten Chefs.»
Allein heult Thomas dann Rotz und Wasser, weil «ihm klar wurde, dass er nie mehr in ihren kleinen Hintern würde beißen dürfen». Er lässt sich von seiner Ehefrau aus dem Büro abholen, für die Sex schon lange kein Thema mehr ist. Carla fasst es nicht mehr, dass sie Thomas «drei, fast vier Monate aus irgendeinem längst nicht mehr nachvollziehbaren Grund tatsächlich geliebt hat.»
Krausser erzählt seine Momentaufnahme aus dem Berliner Beziehungsalltag schnell, abwechslungsreich und mit knackigen Dialogen. Eine Kindesentführung im zweiten Teil als dramatischer Höhepunkt wirkt ein bisschen überflüssig. Raffiniert dagegen, wie der 1964 geborene Autor die Einzelschicksale immer mal wieder miteinander verknüpft.
© Thomas Borchert/dpa
Helmut Krausser, geboren 1964 in Esslingen war u. a. Spieler, Nachtwächter, Zeitungswerber, Opernstatist, Sänger in einer Rock`n`Roll-Band und Journalist. (Halb-)freiwillig verbrachte er ein Jahr als Berber. Nebenbei studierte er provinzialrömische Archäologie. er schrieb Erzählungen, Theaterstücke und ein Opernlibretto.