Liebe hat mit Vernunft wenig bis nichts zu tun
Petra Bohm | Posted 07/09/2009 | Belletristik | Keine Kommentare »
Eine kleine Lektüre über die Zerrissenheit einer Frau zwischen Familie und der vermeintlich großen Liebe…
Im Zug beginnt Jürg Amanns neuester Roman, und im Zug endet er. Tatsächlich unternimmt die Hauptfigur Emma in «Die kalabrische Hochzeit» eine Reise, kommt aber nie wirklich an. Diese Reise führt durch ihre Gefühlswelt, in der es nicht gut aussieht. Denn nach mehr als zehn Jahren platzt Lorenzo abrupt in ihr Leben. Der war ihr Liebhaber, ihre Beziehung zerbrach damals aber. Und nun lebt Emma schon lange in einem anderen Leben, mit Ehemann Carlo und Tochter Laura.
Damit startet auch ein Hin- und Hergerissen-Sein. Die Lehrerin Emma pendelt nicht nur in ihrer Gefühlswelt, sondern auch in der realen. Sie sitzt dauernd im Zug von Triest (Carlo und Tochter) zu geheimen Treffen in Bologna oder Venedig, schließlich sogar Kalabrien (Lorenzo). In Rückblenden merkt der Leser nach und nach, wie Emmas Welt mehr und mehr ins Wanken geriet.
Ihr Charakter macht Emma dabei nicht besonders einnehmend, sie ist schwierig. Da scheint etwa immer wieder eine gewisse Arroganz durch – sie kommt aus gutem Hause, den Sommer verbringt sie auf Sardinien. In Bologna kommt dann der Süditaliener Lorenzo, und Amann hat ihm die leicht animalische Ausstrahlung verliehen, natürlich hat er irgendwas mit Drogen zu tun, Süd- trifft Norditalien. Doch Emma reflektiert selber darüber, als sie ihn kennenlernt. «Nie bisher war sie einem Mann wegen seiner Physis verfallen gewesen, höchstens wegen des Intellekts, wenn überhaupt.»
Es ist auch später vor allem die körperliche Anziehung, die in der erneuten Beziehung zurückkehrt. Ihr Mann Carlo macht es Emma nicht schwer. Der Poet hängt lieber in den Kaffeehäusern von Triest existenzialistischen bis suizidalen Gedanken nach, als sich wirklich um seine Frau zu bemühen. Nur die Tochter Laura hält sie scheinbar davor zurück, Reißaus zu nehmen.
Sicher ist das nicht. Denn Emmas Reise weist auch viele Schlenker auf, die häufig nicht nachvollziehbar scheinen. Dauernd will man ihr zurufen: «Tu doch was, entscheide Dich!» Nein, so einfach ist das eben nicht. Denn natürlich spielt sich Emma etwas vor. In Amanns Roman scheint immer wieder diese Botschaft durch: Liebe hat mit Vernunft wenig bis nichts zu tun.
Es ist wohl die Absicht des 62 Jahre alten Schweizer Autors, aber der Leser hat immer wieder das Gefühl, ihm bliebe ein Teil der Figuren verborgen. Ist das eine Kunst des Andeutens? Auf jeden Fall wünscht man sich mehr Dialoge zwischen den Figuren. So genau hier die Szenerie beschrieben wird und man sich etwa ins drückend heiße Kalabrien versetzt fühlt, umso mehr fallen dann Lücken im Umgang der Figuren miteinander auf.
Wenn es ein beherrschendes Gefühl in diesem Roman gibt, ist es die Zerrissenheit in Emmas Herz. Denn so sehr sie Lorenzo vor allem körperlich verfällt, so wenig sicher ist sie sich immer wieder, ob sie dafür ihre Familie im Stich lassen will. Bis zuletzt belügt sie Carlo, obwohl der wohl schon ahnt, dass sie eine Affäre hat. Zwar scheint die Mittvierzigerin in manchen Momenten ihr Glück zu finden, doch letztlich bleibt es ihr verwehrt.
Amann ist es auf nur 128 Seiten – seine Texte neigen grundsätzlich zur Kürze – aber gelungen, eine ungewöhnliche Reise von Liebe und Leiden zu erzählen. Die kalabrische Hochzeit ist ein trauriges Fest, soviel sei hier verraten.
© Johannes Wagemann, dpa/lettra
Jürg Amann, geboren 1947 in Winterthur, Studium der Germanistik, Literaturkritiker und Dramaturg, seit 1976 freier Schriftsteller (Prosa, Theaterstücke, Hörspiele, Lyrik, Essays). Zahlreiche Preise, u. a. Ingeborg-Bachmann-Preis, Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis, ausgezeichnet bei der Floriana 2002 (für Auszüge aus “Mutter töten”). Lebt in Zürich.