“Das stille Haus” von Orhan Pamuk
Petra Bohm | Posted 01/10/2009 | Uncategorized | Keine Kommentare »
Lassen Sie sich das gerade erschienene Frühwerk des türkischen Nobelpreisträgers einfach vorlesen!
Es hat etwas Gespenstisches, «Das stille Haus». Nur die 90-jährige Fatma und ihr zwergenhafter Diener Recep bewohnen es. Doch spukt der Geist von Selahattin, Fatmas verstorbenem Ehemann, in dem Gemäuer. Er lässt ihr keine Ruhe. Und so liegt sie Nacht für Nacht schlaflos in ihrem Bett und sagt ihm Dinge, die sie zu seinen Lebzeiten nie über die Lippen bekommen hat. Und sie spricht mit sich, rechtfertigt sich für alles, was sie getan oder nicht getan hat. Es scheint, als ob die gottesfürchtige Alte, die doch so gnadenlos verurteilte, was nicht ihrer traditionsverhafteten Lebensweise entsprach, in ihren letzten Lebensjahren seelische Höllenqualen durchleidet.
Als der türkische Autor Orhan Pamuk 1983 sein Frühwerk «Das stille Haus» schrieb, war er erst 31 Jahre alt – und doch so voller Altersweisheit. Dem zerstörerischer Hass Fatmas, den sie auch gegen sich selbst richtet, setzt Pamuk in dem jetzt erst in Deutschland erschienenen Werk mehrere Personen entgegen. Da sind ihre drei Enkel, Faruk, Metin und Nilgün, die jeden Sommer in das Haus der Großmutter zu Besuch kommen. Und da ist Recep – der uneheliche Sohn ihres Mannes, ein kleinwüchsiger Kerl, die meist einzige Gesellschaft Fatmas und jene Person, die die alte Frau allein durch ihre Anwesenheit zum Wahnsinn treibt. Es gibt keine eigentliche Hauptperson in dem Roman, nur dieses Haus am Meer, in dem alle Fäden zusammenlaufen.
Die Geschichte spielt im Sommer 1980 in einer kleinen Stadt unweit von Istanbul, also zu jener Zeit, als die Türkei kurz vor einem Bürgerkrieg stand – unmittelbar vor dem dritten Militärputsch am 12. September. Unsicherheit lähmt die Menschen; Lethargie breitet sich aus, überall. Im Haus der Großmutter herrscht sie ohnehin. Metin, Gymnasiast und jüngster Enkel Fatmas, versucht, in einer Jugendclique mit Alkohol und Drogen seine spätpubertären Gefühle in den Griff zu bekommen. Er träumt von einem Leben in Amerika, nach westlichen Normen. Wie das aussehen soll, weiß er nicht; nur, dass das jetzige ohne Sinn ist.
Seine Schwester Nilgün, ein liebes und kluges Mädchen, das sich geduldig um den alten Teufelsbraten Fatma kümmert, hat eine ziemlich klare politische Richtung: Sie liest Turgenjew und sympathisiert mit sozialistischen Richtungen, was ihr schließlich zum Verhängnis wird. Und Faruk, der Älteste der drei elternlosen Geschwister, ist Historiker und – wie sein toter Großvater Selahattin – Alkoholiker.
Selahattin war ein Freigeist mit fortschrittlichen Ideen. Der politisch engagierte und deswegen geächtete Arzt warf alles über Bord und begann ein nicht zu vollendendes Projekt: Eine Enzyklopädie über alles, was rational zu erklären ist. Natürlich musste diese aufklärerische Idee an den religiösen Traditionen scheitern. Die Aussichtslosigkeit seiner Arbeit und eine Frau, die ihn lähmte und hasste, trieben ihn zum Alkohol.
Im Gegensatz zu Selahattin ist Faruk im orientalischen Gestern verhaftet, obwohl er «modern» sein möchte. Das führt zu einem Zwiespalt, und er erkennt seine Unfähigkeit, Altbekanntem, Gegensätzlichem und neuen Erkenntnissen in einer geschichtswissenschaftlichen Abhandlung eine gemeinsame Basis zu geben. So sucht auch er seine Flucht im Alkohol.
So ernüchternd das alles klingt, so bewegend sind die seelischen Qualen jedes einzelnen geschildert. Jedes Kapitel des Buches ist abwechselnd von einer Person in Ich-Form erzählt. Pamuk findet für sie jeweils eine eigene Sprache – ganz herausragend vor allem für die Großmutter. Damit erfasst der spätere Literatur-Nobelpreisträger auf geniale Weise nicht nur innerste menschliche Gefühle, sondern auch verschiedene Strömungen der türkischen Gesellschaft jener Zeit und teilweise auch von heute. Eine grandiose Bestandsaufnahme, die sich – wie immer bei Pamuk – zwischen Tradition und Moderne bewegt. Und das auf höchstem erzählerischen Niveau.
© Frauke Kaberka/dpa
Sprecher: Liselotte Rau, Adam Nümm, Gerd Grasse, Jean Paul Baeck, Jürgen Elbers
Orhan Pamuk, 1952 in Istanbul geboren, wollte ursprünglich Maler werden, studierte aber Architektur und Journalismus an der Universität Istanbul. Er lebte mehrere Jahre in New York und gilt als einer der begabtesten und erfolgreichsten Prosaschriftsteller der jüngeren Generation in der Türkei. 1995 erschien sein Roman “Das schwarze Buch”, 1998 “Das neue Leben”, 2001 “Rot ist mein Name” und 2005 “Schnee”. Für seine Romane erhielt er 1990 den INDEPENDENT FOREIGN FICTION AWARD und 1991 den PRIX DE LA DÉCOUVERTE EUROPÉENNE. 2005 wurde er mit dem FRIEDENSPREIS DES DEUTSCHEN BUCHHANDELS und dem RICARDA-HUCH-PREIS ausgezeichnet. Den Höhepunkt seiner Karriere als Schriftsteller erreichte Orhan Pamuk, indem ihm 2006 die Schwedische Akademie den NOBELPREIS FÜR LITERATUR verlieh. 2008 erschienen im Hörverlag “Das Museum der Unschuld” und “Istanbul”. Orhan Pamuk lebt in Istanbul.