Der eigenwillige Biograf Dieter Kühn

Petra Bohm | Posted 30/01/2010 | Autoren, Biografien | Keine Kommentare »

«Was wäre, wenn…?»

Dieter Kühn schreibt seit vierzig Jahren Biografien, die jedem Historiker die Haare zu Berge stehen lassen. Anstatt sich an die Fakten zu halten, schickt er Beethoven mit dem Sohn eines afrikanischen Sklaven auf eine Schiffsreise oder geht der Frage nach, warum Napoleon nicht Schriftsteller geworden ist. Am Montag (1. Februar) wird Kühn 75 Jahre alt.

In seinem neuen Buch «Ich war Hitlers Schutzengel» treibt er den Ansatz auf die Spitze: Nun malt er sich aus, was geschehen wäre, wenn Hitler am 8. November 1939 im Münchener Bürgerbräukeller dem Attentat von Georg Elser zum Opfer gefallen wäre. Außerdem gibt Hitlers Schutzengel einen Rechenschaftsbericht ab. Bei dem mittelalterlichen Kirchenlehrer Thomas von Aquin hat Kühn gelesen, dass jeder Mensch, egal wie böse, einen Schutzengel hat. Seine Folgerung: Hitler, der mehrmals knapp dem Tod entging, hatte dann einen besonders tüchtigen Begleiter.

Kühn, der Germanistik und nicht Geschichte studiert hat, nimmt den Historikern nicht ab, dass ihre Lebensbeschreibungen so objektiv sind, wie sie scheinen. Jede Biografie sei viel stärker durch die Perspektive des Autors geprägt, als sich dieser normalerweise eingestehen wolle, meint Kühn.

Ihn stört die scheinbare Unvermeidlichkeit vieler nacherzählter Lebenswege. In Wahrheit hätte doch oft nicht viel gefehlt, und alles wäre ganz anders gelaufen! «Das ist bei mir selbst ja auch nicht anders. Wir haben 1941 einen der ersten Bombenangriffe auf Köln miterlebt.» Er blickte durch ein Mansardenfenster auf die brennende Stadt und erinnert sich bis heute, wie seine Mutter zu ihm sagte: «Schau\’s dir genau an, es wird noch viel schlimmer, aber wir ziehen hier weg!» Die Mutter mietete sich mit ihm in einer Pension in Berchtesgaden ein. «Auf diese Weise sind mir 200 Bombenangriffe auf Köln erspart geblieben. Manchmal frage ich mich, was geschehen wäre, wenn meine Mutter damals gesagt hätte “Ach, das wird schon nicht so schlimm kommen”.»

Kühn ist ein sehr produktiver Autor und hat über Gestalten aus den unterschiedlichsten Epochen geschrieben. Sein erfolgreichstes Buch ist «Ich Wolkenstein» über den weit gereisten Ritter-Poeten Oswald von Wolkenstein (1377-1445), das er gerade nach dem neuesten Stand der Forschung überarbeitet; die Gesamtauflage beträgt 140 000. Wenn er allerdings mal mit einer Zeitmaschine verreisen dürfte – oft hat er sich dies ausgemalt – würde er das frühe 19. Jahrhundert wählen, den Höhepunkt des klassischen deutschen Geisteslebens: «Die Zeit, wo ich Goethe oder Beethoven besuchen könnte.»

Besonders charakteristisch für Kühns Herangehensweise ist sein Buch über die Insektenforscherin und Stilllebenmalerin Maria Sibylla Merian (1647-1717). Von ihr sind nicht mehr als zehn Briefe erhalten. Wie sie über ihre Arbeit, über ihre Zeit gedacht hat, ist nahezu unbekannt. Dennoch füllt Kühns Buch 650 Seiten, weil er jeden Aspekt, der auch nur im entferntesten ihr Leben betrifft, ausführlich erörtert. Die besten Passagen entwerfen ein atmosphärisch dichtes Zeitgemälde, die schwächeren sind hoffnungslos verplaudert.

Kühn lebt in einer Etagenwohnung in Brühl bei Köln, umgeben von gesichtslosen Bauten der 70er Jahre. Aber er betrachtet auch sein persönliches Umfeld mit eigenwilligem Blick. Keine Geschichte hier? Er zeigt auf einen unwirklich knorrigen Baum vor seinem Arbeitszimmer. «Eine kaukasische Flügelnuss», erläutert er. Ein Botaniker, der dort mal wohnte, hat sie gepflanzt. Und schon ist er in einer neuen Erzählung.
© Christoph Driessen/dpa

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