In Frauenschuhen durch die Jahrtausende

03schacc | Posted 24/04/2011 | Historische Romane | Keine Kommentare »

Auch wenn sich die Geschichtswissenschaft seit vielen Jahrzehnten ebenso um die kleinen Leute bemüht wie um Könige oder Gelehrte – historische Quellen berichten weiterhin meistens von grossen Männern und ihren Taten. Die Fiktion in historischen Romanen kann diese einseitige Sicht auf die Vergangenheit ergänzen. Vielleicht schreiben in diesem Genre deshalb so oft Frauen über Frauen?

Nicht umsonst sind die meisten historischen Romane im späten Mittelalter oder danach angesiedelt: Schrift- und Bildquellen sind ab dieser Zeit reichlich vorhanden und vermitteln ein anschauliches Bild der Zeit. Dank ihnen können Schreibende ihrer Geschichte Leben einhauchen und Authentizität verleihen. Kann es aber auch gelingen, eine Geschichte aus der Steinzeit vor 30’000 Jahren zu schildern? Jean M. Auels Leserinnen und Leser sind offensichtlich der Meinung, dass das geht. Die Autorin schliesst mit dem sechsten Roman «Ayla und das Lied der Höhlen» ihren Zyklus «Die Kinder der Erde» ab: Vor vielen Jahren wurde das Cro-Magnon-Mädchen Ayla vom Neandertalerclan des Bären verstossen und begann ihre Reise durch Europa am Ende der Eiszeit. Im sechsten Band ist sie mit ihrem Gefährten Jondalar bei seinem Stamm, den Zelandonii der Neunten Höhle, heimisch geworden und hat ein Baby. Obwohl Ayla als junge Mutter mehr als genug zu tun hat, nimmt sie das grosszügige Angebot der Heilerin und spirituellen Anführerin der Neunten Höhle an und wird ihre Gehilfin. Voll Eifer stürzt sich Ayla in die jahrelange Ausbildung und unternimmt die dazugehörenden Reisen. Doch die doppelte Belastung zehrt an der Beziehung zu Jondalar, der sich vernachlässigt fühlt. Wie uns Jean M. Auel in die Eiszeit versetzt, ist verblüffend. Zwar wirken die zwischenmenschlichen Aspekte des steinzeitlichen Lebens bisweilen etwas modern, doch die Gesellschaft, das Weltbild und der Alltag der Zelandonii sind kenntnisreich und überzeugend beschrieben.

Sehr sorgfältig recherchiert hat auch die britische Historikerin Philippa Gregory. Die Autorin wurde im englischsprachigen Raum schon als Königin des historischen Romans bezeichnet – und das zu Recht. Mit grossem Erfolg verfasste sie bereits zahlreiche Romane, aber auch Kinderbücher, Reiseberichte und Drehbücher. Mit «Die Königin der weissen Rose» eröffnet die Erfolgsautorin eine Trilogie über die Zeit der Rosenkriege. Der Name steht für einen erbitterten Thronfolgekrieg, der England in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts erschütterte. In zahlreichen Schlachten erkämpfte sich das Geschlecht der Yorks – sie führten eine weisse Rose im Wappen – die Krone des herrschenden Königs Heinrich VI. aus dem Hause Lancaster mit der roten Rose im Wappen. Gregory hält sich in ihrer Schilderung eng an historisch belegte Fakten und Personen, dennoch zeichnet sie ein dramatisches und lebendiges Bild – gesehen mit den Augen der Königin der weissen Rose, Elisabeth Woodville. Die verwitwete und verarmte Landadlige stellt sich Edward IV. in den Weg, um vom frisch gekrönten Yorkisten-König ihre verlorenen Güter zurückzuerbitten. Aus dieser Begegnung entflammt eine heftige Liebe, die weder in Elisabeths Familie noch am Hof gern gesehen wird. Doch der König setzt sich gegen seine Familie und Berater durch und heiratet die junge Witwe heimlich. Der Traum vom Thron verwandelt sich schnell in einen Albtraum unablässiger Schlachten, Intrigen und Frontwechsel. Mit sicherer Hand verbindet die Autorin die Linien der Ereignisse mit überzeugenden Personenbeschreibungen. En passant vermittelt uns Gregory viel über das Leben und Sterben im späten Mittelalter und über das politische Denken jener Zeit: Familien bilden die Machtbasis, Hochzeiten besiegeln Koalitionen, Lehen sichern die Treue. Wüsste man nicht, wie hart das Leben der einfachen Leute vor 500 Jahren war, man hätte Mitleid mit dieser politischen Elite!

Rund 100 Jahre später hatte sich in Europa viel verändert: Reformatoren beendeten das Monopol der katholischen Kirche, die Entdeckung Amerikas, die Renaissance und der Humanismus öffneten neue Horizonte, und die Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg schuf das erste Massenmedium, mit dem sich neue Erkenntnisse schneller verbreiteten. Aus diesen Gründen identifiziert die Geschichtswissenschaft in diesem ereignisreichen Jahrhundert den Beginn der Neuzeit. Allerdings blieb auch vieles beim Alten: Auch nach 1600 blieben Schwangerschaft und Niederkunft lebensbedrohend, und die Geburt eines unehelichen Kindes bedeutete den gesellschaftlichen Tod. Von diesen Themen handelt «Das Labyrinth der Engel», der Erstling von Hannah Brebeck. Sie erzählt die Geschichte der königlichen Leibhebamme Louise Bourgeois. Diese hilft Oberhebamme Estienette Rimbault aus dem Pariser Spital Hôtel-Dieu, als dort das Buch mit den Namen aller eintretenden Schwangeren gestohlen wird. Schnell hegen die Frauen den Verdacht, dass der Diebstahl die Niederkunft einer ledigen Mutter aus dem Adel vertuschen soll. Im Zuge der Nachforschungen werden die mysteriösen Vorgänge immer bedrohlicher: Seltsame Geräusche dringen nachts aus der Apotheke, in der Kerzenzieherei macht man eine furchtbare Entdeckung, und eine dunkle Gestalt besteigt den Turm der Ungeborenen. Als auch noch die Leiche eines Augustinerbruders gefunden wird, ist dies erst der Beginn des Schreckens. Hannah Brebecks spannende Geschichte ist zwar erfunden, die Autorin stützt sich aber auf ihr langjähriges Quellenstudium und die reale Person der Louise Bourgeois. Diese Hebamme verfasste ein frauenheilkundliches und geburtshilfliches Werk, das 1619 auch auf Deutsch erschien und lange Zeit als Standardwerk galt.

Weiter geht’s von Paris nach Hamburg: Der Hafen hat die Stadt wohlhabend gemacht. Doch noch Ende des 19. Jahrhunderts gab es in der Hansestadt Armut, Epidemien und Hunger. Auch die junge Greta ist nicht mit dem goldenen Löffel im Mund zur Welt gekommen. Ihr Vater ertrinkt, ihre Mutter liegt mit Tuberkulose im Bett, und Greta schlägt sich als Küchenhilfe ihrer Tante durch, die im Dienst von Hamburgs feiner Gesellschaft kocht. Schon bald zeigt sich aber, dass die ebenso feingliedrige wie zähe Greta eine begnadete Köchin ist. Schafft sie es gemeinsam mit ihrer Tante und dem jungen Fuhrunternehmer Siggo, sich mit ihrem Talent aus der Misere zu befreien und ihr dunkles Geheimnis zu überwinden? Der Leserin und dem Leser wird auf jeden Fall schon nach wenigen Seiten klar: Auch in diesem Jahrhundert tragen ledige Mütter immer noch ein vernichtendes Stigma. Die Journalistin Brigitte Janson verbindet in ihrem ersten historischen Roman «Die Tortenbäckerin» ein scharf gezeichnetes Sittengemälde der Hansestadt um 1895 mit einer zartbitteren Liebesgeschichte. Und noch eine Zutat gibt es in ihrem Gericht: Janson präsentiert uns einige Originalrezepte der alten gutbürgerlichen Hamburger Küche. Sie sind im Anhang des Buches zum Nachkochen aufgeführt. Die Hamburger Krabbensuppe klingt zum Beispiel so verführerisch wie die Beschreibung der Titelheldin. Bisweilen ist die Geschichte so süss wie Gretas Sahnetorten, doch süffig geschriebene und unterhaltsame Lektüre ist «Die Tortenbäckerin» alleweil.

Das letzte Buch, das wir hier vorstellen, ist kein historischer Roman im eigentlichen Sinn. Der Hauptstrang der Handlung spielt in der Gegenwart, doch Autorin Jennifer Donnelly verbindet ihn geschickt mit den Erlebnissen einer jungen Frau in Paris während der Französischen Revolution. «Das Blut der Lilie» verspricht grosses Lesevergnügen – wenn man den schneidenden Sarkasmus und Lebensverdruss eines psychisch angeschlagenen Teenagers erträgt. Das nämlich ist die Protagonistin des Romans: Nachdem Andis kleiner Bruder mit zehn Jahren durch Gewalt ums Leben kommt, fällt ihre Familie auseinander – und die 17-jährige Andi gibt sich die Schuld. Sie versinkt in tiefe Depression und hält sich mit Pillen und ihrer Musik knapp über Wasser. Als ihr Vater befürchten muss, dass seine Tochter auch noch die Abschlussarbeit ihrer teuren Privatschule schmeisst, zwingt er sie zu einem gemeinsamen Aufenthalt in Paris. Dort soll sie sich auf ihre Abschlussarbeit konzentrieren und etwas Abstand zu ihrem Trauma gewinnen. Stattdessen versinkt sie immer tiefer im Schicksal des Kronprinzen Louis Charles, der während der Französischen Revolution im Alter von zehn Jahren allein in einem Verlies starb. Sie findet nämlich das Tagebuch der Betreuerin von Louis Charles, eines Mädchens einfacher Herkunft, das verzweifelt um das Leben ihres Schützlings kämpfte. Mehr sei über die Geschichte nicht verraten. Um sie in Gang zu bringen, strapaziert Donnelly den Zufall bisweilen etwas stark, dafür bietet sie viel: Wortwitz und Sarkasmus, zahlreiche Bezüge zur Musik, eine schöne Liebesgeschichte und einen spannenden Einblick in die Ereignisse während der grossen Revolution von 1789 bis 1795.
Text: Benjamin Gygax

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Titel:
Das Blut der Lilie: Roman

ISBN-13:
9783866122888

Autor:
Jennifer Donnelly

Verlag:
Pendo

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