Wahnwitz in der Vorstadt

Hannah Gi | Posted 10/04/2011 | Belletristik | Keine Kommentare »

Amerika Ende der sechziger Jahre in einem Vorort von New York: Adrette Häuser, adrette Erwachsene, adrette Kinder. Perfekter amerikanischer Traum. Abgesehen davon, dass niemand jemals wirklich nüchtern zu sein scheint, Ängste und Depressionen wuchern und sich allmählich der Irrsinn in diese Vorstadtidylle einschleicht…

Die Lichter von Powder Hill funkeln, die Schornsteine rauchen, und an einer Wäscheleine weht der rosa Plüschbezug eines Toilettensitzes. Aus unwahrscheinlicher Entfernung aus den Augen eines hitzigen, rachsüchtigen Jugendlichen gesehen, der gerade über den Golfplatz streift, scheint der rosa Plüsch das Siegel, der Lohn, das Ehrenzeichen und Wappen von Powder Hill zu sein, hinter dem, in engen englischen Schuhen, Legionen von partnertauschenden, judenhetzerischen, trunksüchtigen geistigen Bankrotteuren marschieren.“

Dieses böse Urteil wird gleich zu Beginn des Romans gefällt, aber Cheever lässt es nicht lange so stehen, sondern nimmt seine Figuren vor dem unreifen Jungen in Schutz – gerade die partyfreudigsten und trunksüchtigsten unter ihnen sind nämlich in Wahrheit „Sozialarbeiter“, die „alles in Gang halten“. So schreibt Cheevers die Geschichte fort, bis der Leser wirklich nicht mehr weiß, was Satire, was Zynismus, was Wahrheit ist.

Im Mittelpunkt stehen im ersten Teil Nailles, abgebrochener Chemiker und Angestellter eines Mundwasserfabrikanten, seine Frau Nellie und Sohn Tony. Nailles sieht sich irgendwann nur noch mit gelb-grauen Pillen vom Dealer seines Vertrauens in der Lage, ordnungsgemäß mit dem Pendlerzug ins Büro und wieder zurück zu gelangen, Nellie hegt sexuelle Phantasien, die sich nicht um ihren Mann ranken und Tony legt sich eines Tages einfach ins Bett und möchte nie wieder aufstehen – was eine eigene, bizarre Geschichte in Gang setzt, in deren Verlauf sich Ärzte, Psychologen und Heiler darum bemühen, Tony wieder auf die Beine zu bringen.

Im zweiten Teil erzählt ein Mann namens Paul Hammer von seinem Leben als uneheliches Kind einer überspannten Kleptomanin und von seiner Suche nach einem Ort, an dem er sich zu Hause fühlt, und im dritten werden die Schicksale der Protagonisten der ersten beiden Teile ganz unheilvoll zusammengeführt. Der ganze Roman scheint in einem Vakuum, einer Parallelwelt zu spielen, Vietnamkrieg, Bürgerrechtsbewegung, sexuelle Revolution – all dies spielt in Bullet Park kaum eine Rolle und wird nur gelegentlich indirekt thematisiert.

Die Story birgt im Übrigen viele kleinere, durchaus in sich geschlossene Geschichten in sich, die auf ihre Entdeckung warten und erkennen lassen, warum Cheever besonders durch seine Kurzgeschichten berühmt geworden ist. Und, das hat mich am meisten für das Buch eingenommen, Cheever hat einen bösen, manchmal unerbittlichen Humor und einen Sinn für das Irrwitzige, der einfach Spaß macht. Wunderbar zum Beispiel die Passage, in der Hammer seine mittlerweile alte Mutter an einem Ferienort besucht und sie eines Tages auf dem Bett liegend mit der Decke sprechend antrifft. “Was um alles in der Welt tust du da, Mutter?” “Ach, ich analysiere mich selbst”, sagte sie gut gelaunt. “Ich dachte, eine Psychoanalyse könnte mir gut tun, und habe deshalb einen Arzt im Ort aufgesucht. Er verlangte hundert Schilling pro Stunde. Das konnte ich mir einfach nicht leisten, und als ich ihm das sagte, meinte er, ich könnte ja meinen Wagen verkaufen und meine Mahlzeiten einschränken. Stell dir das mal vor! Da beschloss ich, mich selbst zu analysieren. Jetzt lege ich mich dreimal wöchentlich auf mein Bett und führe eine Stunde lang Selbstgespräche. Ich bin ganz ehrlich und erspare mir auch nichts Unerfreuliches”.

Also: Nachdem ich „Bullet Park“ verschlungen habe, werde ich mir ganz sicher auch noch das restliche Werk besorgen!

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Titel:
Die Lichter von Bullet Park

ISBN-13:
9783832180683

Autor:
John Cheever

Verlag:
Dumont Buchverlag

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