Alles andere als harmlos –
Petra Bohm | Posted 28/05/2011 | Belletristik | Keine Kommentare »- obwohl der Schweizer Jens Steiner in seinem hochgelobten Debütroman am Anfang etwas anderes suggeriert. Anderseits gibt die Ratlosigkeit, die den Leser schon beim Lesen dieser ersten Sätzen überfällt, schon einen deutlichen Hinweis: dieses Buch bereitet ein verstörendes Gefühl…
Und das sind die ersten Sätze:
“Dies ist Lilis Geschichte. Sie beginnt harmlos. Lilis Leben hatte eine komplizierte Mitte und etwas zerfledderte Ränder. In der Mitte eine Arbeit, die Geld einbringen sollte, immer zu wenig, aber irgendwie kam sie trotzdem über die Runden, zwei Kinder, und viele verschwommene Träume von einem anderen Leben. An den Rändern kleine Verzweiflungen und Fluchten. Alles normal. Lilis Gesichte ist nicht Lilis Geschichte. Nichts in ihr ist, was es ist, die Mitte ist keine Mitte und die Ränder sieht man nicht.
Dies ist keine Geschichte. Wir fangen mit Lili an. Ganz harmlos.”
Lili und ihre Kinder sind diejenigen, die das titelgebende “Hasenleben” führen – immer in Zickzacksprüngen auf der Flucht, man weiss eigentlich nicht wovor – sicher ist in diesem Buch aber das Schicksal der Jäger.
Die junge, allein erziehende Mutter Lili zieht mit ihren beiden Kindern Emma und Werner zuerst nach Genf, später nach St. Moritz, wo sie versucht, als Kellnerin oder Bardame zu Geld zu kommen. Sie führt ein unstetes Leben, träumt zwar ständig davon, was sie besser machen will, scheitert aber immer wieder an ihren eigenen Ausreden, so dass es mich schon fast wütend gemacht hat. Man möchte Lili anschreien und schütteln.
Gleich im ersten Kapitel begreift man, dass sich Lilli nicht genug um ihre Kinder kümmert, sich nicht mütterlich für sie interessiert. Sie lässt die Kinder nachts alleine, ist froh, wenn sie nichts Negatives aus der Schule hört. In der neuen Heimat Genf streunen beide Kinder ohne Französisch-Kenntnisse durch die Straßen, finden keine Freunde. Nur eine alte Dame im Haus nimmt sich der beiden an und Emma und Werner fühlen sich angezogen durch dieses Gefühl der Geborgenheit, das sie bei ihr erfahren. Die alte Frau hat überall in der Wohnung Geld herumliegen, aber die Kinder stehlen es trotz Armut und Verwahrlosung nicht. Als die Frau stirbt, erinnert sich Lili an das Geld. Nimmt sie es? Man weiss es nicht…
Dann wieder ein Hasensprung, diesmal ins Engadin. Dort zeigen sich bei beiden Kindern psychische Störungen. Werner schleicht herum, bespitzelt Hotelgäste und sammelt Alltagsgegenstände. Lilli sitzt meistens am Fenster und beginnt sich zu ritzen. In St. Moritz taucht eines Tages ein Mann auf, dessen Name allen dreien sehr bekannt vorkommt. Und Lili ergreift einmal mehr die Flucht…
Dann eine dramatisch geschilderte Stelle, an der ich dachte, dass jetzt die Katastrophe, von der im Klappentext die Rede ist, kommt – Werner wird fast überfahren – aber eben nur fast: Steiner hat mich gekonnt in die Irre geführt. Dafür kommt dann ein paar Seiten später der Satz, der die Katastrophe auslöst, ganz lakonisch, fast wie nebenbei: “Im Frühsommer darauf starb Werner.”
Der Junge ist im See ertrunken und Lili bricht nun endgültig zusammen. Emma kümmert sich um die depressive Mutter, doch es bleibt nur Schweigen zwischen ihnen – und das Hasenleben geht noch weiter – fast die zweite Hälfte des Buches.
Oops.. nun habe ich zuviel von der Handlung verraten, meint ihr? Ich finde nicht, denn dieses Buch will nicht spannend sein, es fesselt den Leser auf andere, subtile Weise. Und es lässt einen ziemlich bedrückt zurück. Das muss man vertragen (wollen).
Für mich ein potentieller Kandidat für die Nominierung zum nächsten Schweizer Buchpreis… man wird sehen…