Grosser Sinnsucher voller Widersprüche

Books | Posted 09/08/2012 | Autoren, Orell Füssli | Keine Kommentare »

Vor 50 Jahren, am 9. August 1952, starb mit Hermann Hesse einer der beliebtesten deutsch- sprachigen Schriftsteller. Zahlreiche neue Biografien beschreiben sein Leben und zeigen vor allem eines: wie stark sein Werk autobiografisch geprägt ist…

Text: Markus Ganz

Hermann Hesse beschwor immer wieder die «Kunst des Müssiggangs». Er selber blieb aber getrieben vom strengen Arbeitsethos seines protestantisch-pietistischen Elternhauses. Allein die im Juli dieses Jahres bei Suhrkamp erschienene Taschenbuchausgabe seines erzählerischen und essayistischen Werks umfasst über 13’000 Seiten. Hermann Hesse verfasste aber noch viel mehr, zum Beispiel Briefe. Je nach Quellenangabe sind es 35’000 oder 44‘000 Schreiben, in denen er teilweise freimütig seine innersten Gefühle preisgab – dagegen wirkt selbst die Offenbarungsmanie der Facebook-Generation heilig. Dieser Fundus an Briefen, von denen bisher etwa ein Siebtel publiziert wurde, ist ein Schlüssel zum Verständnis von Hermann Hesse. Es kann deshalb nicht verwundern, dass diese Briefe schon mancher Hesse-Biografie dokumentarische Glaubwürdigkeit verliehen haben. Sie haben aber auch zu einer gewissen Gleichförmigkeit geführt: Die meisten Biografen schildern das Leben des weltbekannten Autors chronologisch und verwenden zahllose Briefzitate zur Untermauerung. Auch Heimo Schwilk und Gunnar Decker sind in ihren neuen Hesse-Biografien ähnlich vorgegangen. Aber es gelingt ihnen trotzdem, neue Aspekte des Nobelpreisträgers herauszuschälen und spannend zu vermitteln.

Packende Charakterisierung
Heimo Schwilk fesselt gleich zu Beginn von «Das Leben des Glasperlenspielers» mit der Schilderung, wie Hermann Hesse im Alter von knapp 15 Jahren aus dem Seminar Maulbronn flüchtet: «Nichts wird so sein wie vorher. Das Herz rast, heisse Wellen treiben ihn voran. Der junge Mann spürt, dass diese Entscheidung sein Leben verändern wird. Eben ist er durch die Mauerpforte an der Nordwestecke des Klosters geschlüpft, jetzt gibt es kein Zurück mehr.» Heimo Schwilk charakterisiert vor allem den jungen Hesse sehr glaubhaft. Diesem sei klar gewesen, dass sein romantischer Ausbruch scheitern musste. Er habe den höheren Sinn eben nicht im Durchbrechen der Ordnung, sondern im Erzwingen des Eigenen gesehen. Der Missionarssohn wollte sich selbst verwirklichen und sein Leben nicht Gott widmen, wie es seine Eltern erwarteten. Schon im Alter von zwölf Jahren erklärte er trotzig, er wolle «entweder ein Dichter oder gar nichts» werden.

Dichten und dienen
125 Millionen Bücher von Hermann Hesse sollen bis heute weltweit verkauft worden sein. Dieser gewaltige Erfolg hat immer wieder nach einfachen Erklärungen gerufen: Hermann Hesse wird gern als Dichter der Jugend und des Protests, als Kämpfer gegen Autorität und für Individualismus, als asketischer Mystiker und protestantischer Buddhist charakterisiert. Heimo Schwilk begnügt sich in seiner Biografie nicht mit solchen Allgemeinplätzen und Klischees, denn sie würden nur wenig zum Verständnis des Phänomens Hesse beitragen, wie er in seinem Vorwort erklärt. Das eigentlich Faszinierende an Hesse lasse sich mit der Doppelbegrifflichkeit von «Dichten und Dienen» ausdrücken. Für Hermann Hesse sei der Mensch auf sein ureigenes Wesen angelegt, dem er in seinem Wirken Gestalt zu verleihen und dem er zu dienen habe. Dieser Ansatz zum Verständnis von Leben und Werk Hesses ist durch die ganze Biografie hindurch spürbar, ohne dass dies bemüht wirkt. Denn Heimo Schwilk weiss zu erzählen. Er belebt das dokumentarische Material mit Freiheiten der Ausschmückung und lässt zuweilen auch sein Unverständnis durchscheinen, wenn es um die Widersprüche des grossen Dichters geht.

Psychologischer Schwerpunkt
Diese Widersprüche und die Zerrissenheit, in die Hermann Hesse auf seiner lebenslangen Suche nach Sinn geriet, haben auch viel zur Faszinationskraft seines Werks beigetragen. Das zeigt Gunnar Decker in seiner Biografie «Der Wanderer und sein Schatten», die ausführlicher als die von Heimo Schwilk geraten ist. Decker hat Aspekte wie Hesses Beziehung zu Thomas Mann und die sensible Psyche des Dichters als Schwerpunkte gesetzt. Er beschreibt vertiefend das Kind, das nicht Kind sein durfte, den Menschen, der ein Leben lang von suizidalen Gedanken gequält wurde, den Schriftsteller, den trotz frühem Erfolg die Selbstzweifel plagten. Und den Sinnsucher, der mit der Psychoanalyse den Zugang zur Seele und damit zum Göttlichen suchte. Gunnar Decker brilliert zudem mit einem Vorwort, in dem er nicht zuletzt auch zu erklären vermag, weshalb die Werke von Hermann Hesse nichts von ihrer Gültigkeit verloren haben und immer wieder von neuen Generationen entdeckt werden.

Frauen …
Decker beschreibt Hesse als «notorisch reizbaren Einzelgänger, der andere Menschen – sogar die eigenen Ehefrauen – immer nur in gehöriger Distanz zu ertragen» vermochte. Heimo Schwilk ist sogar der Ansicht, dass unter dem Eigensinn des Dichters vor allem dessen Frauen zu leiden hatten. Bärbel Reetz porträtiert in «Hesses Frauen» nun die drei Ehefrauen von Hermann Hesse, die stets in dessen Schatten standen und deren Bedeutung oft ignoriert wurde. Die Biografin zeigt, welche Persönlichkeiten die Fotografin Maria Bernoulli, die Sängerin Ruth Wenger und die Kunsthistorikerin Ninon Dolbin-Ausländer waren, und sie lässt sie aus teilweise unveröffentlichten Briefen sprechen. Mia Hesse etwa, die erste Ehefrau des Dichters und Mutter seiner drei Söhne, schrieb 1925, nachdem Hesse bereits mit der 20 Jahre jüngeren Ruth Wenger verheiratet war: «Ich könnte nie mehr mich seiner Überlegenheit fügen. Das ist vorbei, denn er kann mir nur noch als Dichter etwas geben.»

… und Facebook
Was kann uns Hermann Hesse heute noch als Dichter geben? Der Suhrkamp-Verlag stellte im März 2012 jeden Tag drei seiner Briefe auf eine Facebook-Seite und regte die Nutzer an, darauf zu reagieren. Die beliebtesten Briefe und Kommentare werden im Juni im Taschenbuch «Hermann Hesse antwortet … auf Facebook» veröffentlicht.

Hermann Hesse wurde am 2. Juli 1877 in Calw in Baden-Württemberg als Sohn eines pietistischen Missionarsehepaars geboren. Vier Jahre später zog die Familie vorübergehend nach Basel – und in der Schweiz sollte Hermann Hesse, der 1923 Schweizer Staatsbürger wurde, fortan einen Grossteil seines Lebens verbringen. Allein in Montagnola bei Lugano, wo er am 9. August 1962 im Alter von 85 Jahren starb, lebte er über vier Jahrzehnte. Mit «Peter Camenzind» gelang Hesse 1904 der Durchbruch, weltweit berühmt machten ihn vor allem die Prosawerke «Siddhartha» (1922) und «Der Steppenwolf» (1927). 1946 erhielt Hesse den Nobelpreis für Literatur.

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Titel:
Hermann Hesse antwortet ... auf Facebook (suhrkamp taschenbuch)

ISBN-13:
9783518463765

Autor:
Hermann Hesse

Verlag:
Suhrkamp Verlag

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