Auf der Flucht

Books | Posted 02/10/2012 | Belletristik, Orell Füssli | Keine Kommentare »

Paul Austers neuer Roman zeigt eine mürbe Gesellschaft zwischen American Dream und sozialem Bankrott…

Text: Marius Leutenegger

Gibt es in der engen Familie Krisen, geht manchmal fast vergessen, dass man sich gelegentlich auch nach dem Wohlbefinden der etwas entfernteren Verwandten erkundigen sollte. Holen wir das also nach – und fragen wir trotz griechischer Malaise, Euro-Dümpelei und dem Schreckgespenst einer Berlusconi-Renaissance: Wie geht es eigentlich den USA?

Einer, der Antworten auf diese Frage hat, ist der New Yorker Paul Auster. Seit er mit seinen experimentellen Kriminalromanen der «New Yorker Trilogie» 1987 den Durchbruch als Schriftsteller schaffte, malt er fast jährlich ein neues literarisches Porträt der US-amerikanischen Gesellschaft. Inzwischen ist der Ehemann der Schriftstellerin Siri Hustvedt 65 Jahre alt und ein Mann ohne Illusionen. «Die Dinge laufen nicht, Amerika ist blockiert», stellte er vor zwei Jahren in einem Interview trocken fest.

Was er damit auf menschlicher Ebene meint, zeigt er in seinem neuen Roman auf. «Sunset Park» erzählt die Geschichte von vier gescheiterten Existenzen, die in Brooklyn ein Haus besetzen, obwohl sie längst über das Alter von Hausbesetzern hinaus sind. Wie ihr Land sind auch sie blockiert, und auch bei ihnen laufen die Dinge nicht – weder hinsichtlich Liebe, noch bezüglich Beruf oder Selbstfindung. Als Vertreter einer verlorenen Generation stecken sie irgendwo fest zwischen American Dream und der Bankrotterklärung einer mürben Gesellschaft.

Hauptfigur des Romans ist der charismatische Miles Heller, der auf die 30 zugeht und sich seit Jahren auf der Flucht befindet. Als Teil einer Patchwork-Familie stiess er einst seinen Stiefbruder Bobby vor ein herannahendes Auto. Die Schuld an Bobbys Tod und am Leid der Familie lastete so schwer auf Miles, dass er untertauchte und New York verliess. In Florida lernt er die Liebe kennen – doch es ist eine verbotene Liebe, und Miles muss erneut flüchten. Schicksalshafterweise bietet ihm Bing Nathan, der einzige verbliebene Kontakt aus seinem früheren Leben, eine Zuflucht an: ein Zimmer im besetzten Haus am Sunset Park in Brooklyn. Der müde Miles nimmt das Angebot an. Zusammen mit Bing und zwei angeschlagenen Frauen wohnt er nun an einem Ort, der anscheinend von der Welt vergessen wurde. Hier lässt er sich von der Vergangenheit einholen; Miles sucht und findet wieder den Kontakt zu seinen Eltern.

Es keimt fast so etwas wie Hoffnung auf. Doch Paul Auster ist der Spezialist für trübe Zwischenfälle, und darum wird der Keimling in einer eher nebensächlichen Situation zertrampelt. Die einzige Konstante bleibt eben die Instabilität – jene der Beziehungen und jene der eigenen Gewissheiten. Das alles ist sehr düster und auch eher berechenbar. Die Kritik nahm das Buch denn auch nicht gerade begeistert auf. Wir Europäer hätten sogar noch einen ganz besonderen Grund, dieses jüngste Werk von Paul Auster nicht sonderlich zu mögen: Der Autor verwendet das von ihm über alles geliebte Baseball-Spiel als Metapher fürs Leben, und deshalb beschreibt er manchmal seitenlang Biographien von Spielern, zu denen wir keine Verbindung haben.

Und doch: «Sunset Park» hat starke Momente. Wie sich die Figuren auf Dinge stürzen, statt auf Menschen, zeigt eindrücklich, wie brüchig die Beziehungen im Facebook-Zeitalter geworden sind. Die Charaktere sind interessant, und man will wissen, was aus ihnen wird – obwohl man stets ahnt, dass das nicht allzu viel sein wird. Schön sind die Beschreibungen von Samuel Becketts Stück «Glückliche Tage» – Auster hat Beckett persönlich gekannt – sowie die Einblicke in die Welt des Films und des Theaters; beide Welten kennt Auster gut, denn der fleissige Nachfahre ukrainischer Juden schreibt auch Theaterstücke und Filmdrehbücher, zudem hat er sich bereits als Filmregisseur betätigt.

«Sunset Park» enthält all jene Elemente, die einen Roman von Paul Auster ausmachen: Es geht um Aussenseiter, um Identitätsfindung, um das Verhältnis zu den Eltern und um die bösen Zufälle, die unser Leben prägen. Auch wenn der neue Roman sicher nicht Paul Austers bester ist, bleibt er fraglos lesenswert – vor allem dann, wenn man wissen möchte, wie es sich in einer Gesellschaft lebt, die sich allmählich aufzulösen scheint.

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Titel:
Sunset Park

ISBN-13:
9783498000820

Autor:
Paul Auster

Verlag:
Rowohlt

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