OSAMA von Lavie Tidhar
admin | Posted 03/07/2013 | Belletristik, Krimi | Keine Kommentare »Text: Dominik Roth
Bücher aus dem Phantastik-Genre (und damit meine ich nicht die üblichen Vampir-Herzeleid „Biss zum Tod“-Romane) hallen häufig im Kopf des Lesers nach. Jules Verne war mit seinem technischen Weitblick seiner Zeit Jahrhunderte voraus, Philip K. Dick und George Orwell haben in ihren Werken immer wieder gesellschaftliche Schreckensszenarien heraufbeschworen, die auch heute noch in der Diskussion stehen – man denke an die aktuelle Debatte über das US-Überwachungsprogramm „PRISM“. Lavie Tidhar, Autor mit israelischen Wurzeln, ist ebenfalls ein äusserst nachdenklich stimmender Roman gelungen, der sich in den Hirnwindungen festkrallt wie ein Adams’scher Babelfisch. Aber der Reihe nach.
Hält man das Buch in der Hand, prangen einem die Titelbuchstaben in güldenem Schein entgegen, die von dem mutmasslich grössten Terroristen der jüngsten Vergangenheit zeugen: „OSAMA“. Tatsächlich ist es Osama bin Laden, der eine Rolle in dem Buch spielt – und doch ist alles irgendwie verdreht:
Den 11. September 2001 hat es niemals gegeben. Überhaupt ist Islamistischer Terrorismus völlig unbekannt. Der findet nur fiktiv im Kopf von Mike Longshott, einem Autor für Schundromane, statt. Seine Schöpfung „Osama bin Laden: Vergelter“ ist eine regelmässig erscheinende Groschenheftserie, die bestenfalls zur seichten Ablenkung vom drögen Alltag dient. Der Fall der „Twin Towers“, die U-Bahn-Anschläge in London: alles nur Motive seiner billigen Unterhaltungsreihe.
Joe, seines Zeichens klassischer Privatdetektiv der Marke „Hard-boiled“ – heisst: Whiskey, Frauen, Kippen, grosse Klappe – will mit der Lektüre dieser Werke das langweilige Dasein in der Hitze von Laos hinter sich bringen. Bis der nächste Kunde hereinschaut – natürlich in hübscher Frauengestalt. Der Auftrag könnte dann auch nicht merkwürdiger sein: „Finden Sie Mike Longshott!“. Was tut Mann nicht alles für eine hübsche Frau? Eben. Also macht sich Joe auf die Suche nach dem zweifelhaften Autor. Ein harmloser Auftrag? Wäre langweilig – denn schon bald beginnen sich diverse sonnenbebrillte, in Anzüge gezwängte Muskelmänner für die Nachforschungen des Schnüfflers zu interessieren.
Was folgt, ist eine Geschichte, auf die man sich einlassen muss. Oftmals verwirrend, manchmal in einer Sprache, die schwer zu lesen ist. Und trotzdem lohnt sich die Lektüre. Denn Lavie Tidhar hat einen schrägen, aber höchst interessanten Ansatz zum Thema „Der 11. September und wie dieser die Welt verändert hat“. Doch nicht nur das. Der Roman strotz vor Anspielungen und Zitaten, bei deren Entschlüsselung aufregende Informationen zu Tage treten. Da wäre zum Beispiel der Name des fiktiven Autors „Mike Longshott“. Dies war angeblich ein echt auftauchendes Pseudonym mehrerer Schreiber der sogenannten „Stalag-Romane“, die in Israel ab Anfang der 70er Jahre auftauchten. Die Geschichten waren relativ simpel gestrickt: britische oder amerikanische Soldaten werden von ss-Leuten gefangen genommen und von vollbrüstigen Wärterinnen sexuell und psychisch brutal gefoltert. Viel Porno, viel Gewalt und eine ganz besondere Art der Vergangenheitsbewältigung in einem Land, dass im Zuge des Eichmann-Prozesses erstmals schonungslos mit dem gesamten Ausmass des jüdischen Vernichtungsprozesses in Nazideutschland konfrontiert wurde.
Nur einer der Gründe, warum „Osama“ auch nach dem Lesen nachhallt. Ein anderer wäre das Ende des Romans. Das wir natürlich nicht mal andeuten wollen. Nur eines: es wird ganz anders als der Beginn des Romans. Den einleitenden Worten von Mike Longshott – „Fang immer mit einer grossen Explosion an.“ – folgen Taten. Letztendlich ist „Osama“ nämlich eines: ein grosses „Ka-Wumm“ in der heutigen Literaturlandschaft.
Lavie Tidhar wuchs in einem israelischen Kibbuz auf und lebte seitdem in Südafrika, Grossbritannien, auf Vanuatu und in Laos. Seine Kurzgeschichten und Romane wurden für diverse Preise nominiert. Mit Osama gewann Tidhar den World Fantasy Award 2012. Der Autor lebt zurzeit in London