Reisen – aber nicht nach Plan

Books | Posted 16/07/2013 | Belletristik, Reisen, Sachbuch | Keine Kommentare »

Die Engländer sind sozusagen die Erfinder des neuzeitlichen Tourismus’ – und damit auch des Reiseberichts. Zwei neue Bücher sind besonders lesenswert, denn sie zeigen, wohin eine Reise führen kann, wenn sie nicht von Tourismusbüros, Fahrplänen und Websites in geordnete Bahnen gezwängt wird…

Text: Hanspeter Künzler
Die Expedition auf den höchsten Berg der Erde, Rum Doodle genannt, beginnt mit einer Panne: Ausgerechnet Humphrey Jungle, der Mann, der als Funkexperte und Navigator ins Team eingeladen wurde, geht auf dem Weg zur Vorbesprechung im Londoner Verkehrsdschungel verloren. Erst viel später gelangt er doch noch zur Gruppe – nach einer Irrfahrt, die ihn über Cockfosters, Hounslow, Wales und Buenos Aires in eine Banditenhöhle in Yogistan führt. Zu diesem Zeitpunkt ist den urenglischen Gentlemen, die sich zur Besteigung aufgemacht haben, bereits ein weiteres Ungeschick zugestossen. Lancelot Constant, «eigens wegen seines Taktgefühles und Kameradschaftsgeistes ausgesucht», hat wegen seiner lückenhaften Kenntnisse der Lokalsprache aus Versehen statt 3000 Träger deren 30’000 engagiert. Die desaströse Besteigung endet – so scheint es zu- mindest – mit dem desolaten Ausruf: «Wir hatten den falschen Berg bestiegen!»

Eine absurdere, tölpelhaftere Expedition ist unmöglich. Und doch: den Zeitgenossen, die den zum Heulen lustigen Roman im Jahr 1956 erstmals zu Gesicht bekamen, war der Inhalt plausibel genug, dass die Kritikerin der ehrwürdigen Publikation «Good Housekeeping» zugeben musste, erst nach der Hälfte des Buches gemerkt zu haben, dass es sich nicht um einen Dokumentarbericht handle. «Die Besteigung des Rum Doodle» ist ein Meisterwerk bit- terböser Satire. Denn die Lektüre von den Berichten, welche die grossen englischen Bergsteigerpioniere ein paar Jahre früher aus dem Himalaya oder vom Cresta Run in St. Moritz zurückgeschickt hatten, zeigt, dass die Realität von der Fiktion so weit nicht entfernt war. Da wie dort haben wir es mit exzentrischen Engländern privilegierter Abstammung zu tun, lauter Männern, die sich ins ferne Abenteuer stürzen, ohne sich dabei viel zu überlegen. Ihre Ausrüstung ist dürftig, dafür ihr Bewusstsein, heldenhafte Pioniertaten zu unternehmen, gewaltig. Die Lokalbevölkerung besteht für sie aus ungehobelten Muskelpaketen, die selbst dann, wenn es ohne ihre tatkräftige Mithilfe nicht mehr weiterginge, mit herablassender Nonchalance behandelt werden.

«Die Besteigung des Rum Doodle» gilt in der britischen Bergsteigerszene längst als Insider-Tipp. Es ist sogar ein Flecken Antarktis offiziell nach ihm benannt worden, Mount Rumdoodle. Doch der Roman bietet mehr als amüsanten Lesestoff für Kletterer. «The Guardian» hat ihn auf seine Liste der «1000 Bücher, die jeder gelesen haben muss» gesetzt, denn er kann durchaus als Kritik an der Überheblichkeit gelesen werden, die das Verhalten vieler Briten im Imperium prägte. Vielleicht war die Satire dem Publikum aber zu bissig: dem Autor William E. Bowman (1911-1985) brachte sie jedenfalls nicht allzu viel Glück. Bowman wuchs in Middlesbrough auf, entwickelte früh eine Passion fürs Wandern, bestieg aber nie einen höheren Berg als den Scafell Pike im Lake District. Er verdiente sich den Lebensunterhalt als Ingenieur. Obwohl «Die Besteigung des Rum Doodle» in mehrere Sprachen übersetzt wurde, konnte Bowman nur noch ein weiteres Buch veröffentlichen – eine Parodie auf Thor Heyerdahls Reisebericht von der Kon-Tiki. Jetzt liegt sein Meisterwerk endlich in einer neuen Übersetzung auf Deutsch vor.

Ein Reisebuch ganz anderer Art ist «Slow Travel – Die Kunst des Reisens». Dan Kieran gehörte zehn Jahre lang zur Redaktion von «The Idler», einer englischen Publikation, die sich dem Müssiggang verschrieben hat. Kieran nimmt als Anfangspunkt seiner Reisen ein Zitat des chinesischen Philosophen Lao Tzu: «Ein guter Reisender hat keinen festen Plan. Und hat nicht vor, je an ein Ziel zu gelangen …» Das moderne Reisen mit peinlich genau berechneten, auf Effizienz bedachten Fahr- und Flugplänen sei gleichermassen ein Anti-Reisen, meint er: Statt den Reisenden mit dem Unerwarteten zu konfrontieren und im wahrsten Sinn des Worts seinen Horizont zu erweitern, sei die moderne Reiseindustrie dar- auf bedacht, ihn nicht mit unerwarteten Erlebnissen zu stressen. Mit sanfter Eindringlichkeit und vielen appetitanregenden Anekdoten aus den eigenen Reisetagebüchern – ein Wochenende auf der Insel Mull, eine Zugreise nach Prag und so weiter – plädiert er für das instinktive Reisen ganz der Nase nach. «Slow Travel» ist ein Buch wie eine Reise, die alleweil ein lesendes Hockenbleiben in der Stube wert ist.

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Titel:
Die Besteigung des Rum Doodle

ISBN-13:
9783954030101

Autor:
William E. Bowman

Verlag:
Rogner & Bernhard

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