William Gibson – Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack
admin | Posted 19/07/2013 | Sachbuch | Keine Kommentare »Text: Dominik Roth
Eines vorweg: ja, William Gibson hat seinen literarischen Ruhm mit Science Fiction-Romanen begründet. Sein aktuelles Werk eignet sich trotzdem als Lektüre für Jedermann. Denn die Sammlung aus Zeitschriftenartikeln, Reden und Essays des Schriftstellers beinhalten Gedanken über etwas, das uns alle angeht: die Gegenwart.
Ja ja, so ist sie, die gute alte Welt, wie wir sie kennen: jeder ist vernetzt, alle befinden sich im Cyberspace, und die Kluft zwischen den Generationen wird immer grösser, weil jede Jugend mit immer mehr Technik aufwächst, welche „die Alten“ kaum verstehen. Ein bisschen hat er das vorausgesehen, der Mr. Gibson, damals, im Jahr 1984 mit seinem Roman „Neuromancer“, der so ziemlich jeden Preis einheimste, den es gab. Etwas fehlt jedoch in seinem Gedankenkonstrukt der Welt, wie wir sie heute kennen: Handys. Liest man den Roman mit dem jetzigen Wissensstand, wirkt der mehr als 20 Jahre alte Versuch, einen Blick in die Zukunft zu wagen, irgendwie putzig. Und das, obwohl sich William Gibson ordentlich angestrengt hat: die Begriffe „globale Vernetzung“ und „Cyberspace“ stammen von ihm, lange bevor wir damit anfingen, sie wahllos in den Raum zu werfen wie überreife Äpfel.
Genau an diesem Punkt kommt der Anstoss, unsere Gehirnzellen zu benutzen: jedes Ratespiel einer möglichen Zukunft ist eigentlich ein Bild unserer Gegenwart und muss im Zusammenhang mit seiner Entstehungszeit gesehen werden. Etwas, was viele Sci-Fi-Fans Gibsons Meinung nach nicht verstehen. Das mag sich jetzt ein wenig hochtrabend und vielleicht auch arrogant anhören. Aber keine Sorge: in „Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack“ liest sich das alles bedeutend humorvoller als es der Verfasser dieser Rezension auch nur ansatzweise wiedergeben könnte.
Beinahe 20 Jahre umfassen die verschiedenen Veröffentlichungen der hier zusammengestellten Werke, in denen der Autor seinem Leitsatz treu bleibt: die Beschreibung der Gegenwart hat oberste Priorität. Und trotzdem sind die aufschlussreichsten Texte die, die vor mehreren Jahren veröffentlicht wurden. So wundert er sich im Jahr 2001 über die in sich versunkenen, vor sich auf dem Handy tippenden Schulmädchen in Japan, welche die Umwelt völlig vergessen (womit die globale Netzwerksucht in Kombination mit Smartphones vorweggenommen wurde). Es amüsiert die Erzählung, wie sich Gibson 1999 mit dem eBay-Virus infiziert, und mit Modem und altertümlichen Laptop auf einem Hotelzimmer versucht, sein Höchstgebot auf eine alte Uhr abzugeben (mal ehrlich: erinnert sich irgend jemand daran, wie eBay 1999 ausgesehen hat?). Zugleich geht er dem Gedanken nach, wie irrsinnig die Masse an produzierten Waren weltweit ist, und es trotzdem für alles dankbare Abnehmer zu geben scheint (die Erklärung des Begriffs „Otaku“ sollte vor der Lektüre ggf. ergooglet werden).
Ja, es hat sich viel getan in den vergangenen zwei Jahrzehnten. Gegenwärtig gehen Experten davon aus, dass sich das Wissen der Welt etwa alle 7 Jahre verdoppelt. Tendenz steigend.
Und was ist nun bei all diesen Fakten der Weisheit letzter Schluss? Laut Gibson die, dass die Gegenwart viel spannender ist als die Zukunft. Und irgendwie ist das alles auch schon ganz schön witzig. Und das ist das schöne an „Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack“: nach der Lektüre fühlen Sie sich besser. Denn so schön wie jetzt kann es in der Zukunft gar nicht sein.