Von Korsika bis Kaschmir
admin | Posted 08/11/2007 | Krimis | Keine Kommentare »
Der neue “Marseille-Krimi” des Franzosen Olivier Descosse geht weit über Marseille hinaus – von Korsika und London bis nach Pakistan
Ist dieser Reflex der Werbeabteilungen von Buchverlagen mittlerweile automatisiert? Kaum hebt die Krimi-Lektorin in der Vertreterkonferenz, der Präsentation der kommenden Büchersaison eines Verlages, an, ein Buch vorzustellen, das mit einem Bombenanschlag in der südfranzösischen Stadt Marseille einsetzt, schon wird dekretiert, dass als Untertitel “Marseille-Krimi” verwendet wird. Und zweitens: an welcher Stelle der Umschlagrückseite der Name “Jean-Claude Izzo” zu sehen sein muss. Dass noch dazu ein Jean-Claude-Izzo-Zitatvergleich eines Kritikers der französischen Tageszeitung “Le Figaro” zur Verfügung steht, um so besser.
Alles beides so geschehen beim neuen Buch Olivier Descosses inklusive Untertitel und Vergleich. Dabei hat der neue Kriminalroman des vormaligen Juristen mit den Büchern eines Jean-Claude Izzo gerade einmal das Französische gemein.
Descosse, das bewies er bereits mit den Vorgängerbänden “In der Höhle des Kraken” und “Blutspiegel”, gesellt sich viel eher zu einem Jean-Christophe Grangé, ohne dessen pathologische Blutlust zu erreichen. Er hat amerikanische Vorbilder und Spannungsautoren genau gelesen. Das beweist auch dieses neue Buch. Denn die Hauptfigur, der langhaarige, Motorrad fahrende und Lederjacken tragende Polizeileutnant Paul Cabrera, hat weitaus mehr mit Lee Childs Jack Reacher zu tun als mit Izzos Fabio Montale.
Cabrera entstammt dem italienischen Einwanderermilieu der südfranzösischen Hafenstadt, er hat sizilianische Wurzeln, und arbeitete sich mit den Fäusten hoch, leitet mittlerweile eine Polizeibrigade, die sich als Cowboyeinheit versteht, wenn sie Türen eintritt und Razzien durchführt, und den Dienst an der Öffentlichkeit als Pflicht zur Adrenalinausschüttung einstuft. An dieser Stelle fehlt dem Leser dann nur noch der Ruf “Rock’n’ Roll” (was sich jedoch selbstredend für einen Franzosen verbietet).
Cabrera tritt auf den Plan, nachdem das Marseiller Finanzamt durch eine Bombe in Schutt und Asche gelegt wurde. Der leitende Untersuchungsrichter Lionel Van Bruge und sein Assistent, der junge Richter Reichman, finden immer mehr Hinweise dafür, dass der Angriff auf eine französische Institution nicht von der separatistischen Korsenbewegung begangen wurde. Sondern Ziel war vielmehr das benachbarte Bürogebäude. Cabrera ermittelt teils auf eigene Faust, ist doch bei der Rettung von Verschütteten sein Onkel Fabio Pazzoni, ein Feuerwehrhauptmann, ums Leben gekommen.
Und dann tritt Angela auf den Plan, Pauls in Palermo lebende Cousine, eine Juristin, die von Fabio nach dem Tod ihrer Eltern an Kindes statt erzogen worden war.
Spuren verweisen immer stärker auf ein kriminelles Netzwerk, das sich bis nach England erstreckt. Wo Reichman bei einem dubiosen Londoner Privatbankier auf etwas stößt, was ihm das Leben kostet. Während dessen verfolgt Paul, Angela im Schlepptau, eigene Spuren, die bis nach Sizilien führen, bis zur Cosa Nostra. Was ihnen beiden fast das Leben kostet.
Eine Entführung, das Wiedersehen mit einer tot geglaubten Liebe, eine Actionszene nach der anderen – Descosse scheut sich nicht, die Spannungsschrauben immer schneller und immer kopfverdrehender zu drehen. Schließlich spiegelt das Verbrecherszenario nichts weniger als die verbrecherische Globalisierung wider (inklusive, man ist schließlich Franzose, Karikaturen dekadenter Engländer und feiger britischer Polizisten).
Und hier wird es dann nicht mehr abgründig. Sondern Descosse watet, als sei es ein Lee Child-Roman, in einem immer tiefer werdenden Blutstrom.
Am Ende, auf den letzten 50 Seiten, merkt man deutlich, wie er noch einmal tief Atem schöpft und ein Finale aufs Papier bringt, das in etwa so realistisch daherkommt wie Frederick Forsyths letzte Räuberpistole “Der Afghane”. Dass der Untersuchungsrichter eine Rächer- und Selbstjustizaktion lostritt, das sein Finale im pakistanischen Hochgebirge inklusive fundamentalistisch-muslimischem Verbrechergenie, das hinter allem steckte, findet, ist dann einfach etwas zu viel, weil schlicht unglaubwürdig.
Bis dahin hat aber Descosse gezeigt, dass sich kontinentaleuropäische Thrillerautoren beim Plotkonstruieren, bei Actionszenen, bei dramaturgischen Geschwindigkeitswechseln und bei Milieuschilderungen keineswegs hinter angelsächsischen oder US-amerikanischen Kolleginnen und Kollegen zu verstecken brauchen.
Sie müssen nur wollen. Sie müssen nur von Konspiration, Paranoia und Gewalt erzählen wollen. Und sei’s in Marseille.
Das Buch:
Olivier Descosse: Die Spur des Korsen. Marseille-Krimi. Aus dem Französischen von Michaela Meßner. Blanvalet Verlag, 2007