Seerosen und Schicksale

admin | Posted 02/11/2007 | Uncategorized | Keine Kommentare »

Der Schauspieler an der Schreibmaschine – Ulrich Tukur

Ulrich Tukur erzählt hinreißende Geschichten aus Venedig

Seit Ende der neunziger Jahre lebt der deutsche Schauspieler Ulrich Tukur mit seiner zweiten Frau, der Fotografin Katharina John, in Venedig.

Vor drei Jahren kam ein Hörbuch, eher ein Art Feature, heraus, auf dem er neben schönen O-Tönen, Gesprächsmitschnitten und Geräuschen aus diversen
caffès
und
trattorie
sein Venedig vorstellte.

Nun hat ihn der Claassen Verlag endlich dazu bewegen können, dies auszuarbeiten und zu Papier zu bringen. Und dieser Verlag, nicht gerade bekannt für eine den Luxus streifende Ausstattung seiner Bücher, legt mit diesem in Leinen gebundenen, mit schönen Schwarz-Weiß-Fotografien Johns versehenen Buch eines seiner schönsten Hervorbringungen der letzten Jahre vor.

Tukur, seit 25 Jahren auf zahlreichen Theaterbühnen daheim – kurzzeitig war er auch Intendant eines kleinen Hamburger Privattheaters – und aus zahlreichen Filmen bekannt, zuletzt zu sehen etwa in “Das Leben der Anderen” und der Verfilmung der Martin-Walser-Verfilmung “Ein fliehendes Pferd”, schreibt aber keine Geschichten über Venedig auf. Sondern Geschichten aus Venedig.

So über einen stadtviertelbekannten Mann, der einen Uniform-Tick hat und abwechselnd in Venedig und in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt auf dem Festland lebt. Dieser taucht mal als Rettungssanitäter auf, mal als ein Flugzeug auf dem Flugfeld dirigierender Lotse. Doch immer harmlos und sympathisch. Und anrührend.

Anrührend ist auch die Geschichte der neunfachen Mutter und Putzfrau im Opernhaus “La Fenice”, von der Tukur erzählt, die den abendlichen Auftritten einer Callas, einer Teobaldi, eines Benjamino Gigli lauscht und dann spät nachts, ausgepumpt, in familiäre Armut eintaucht.

Zahlreiche weitere farbige Charakter tauchen hier auf, etwa der Kellner seines Lieblingsrestaurants, der zu große Ambitionen hegt, sich mit dem Küchenchef anlegt, entlassen wird, in einer Touristenverfütterungseinrichtung nahe des Bahnhofs Santa Lucia landet – und aus dieser Fertiggerichtvorhölle erst nach sechs Monaten erlöst wird. Und wieder ins “Due Torri” zurückkehren darf, etwas geläutert.

Tukur erzählt von einer reichen Familie, zu deren exklusiv-merkwürdigem Weihnachtsfeier er geladen wird – und wie sich deren Schicksal binnen kurzem von großem Reichtum in ein Nichts verwandelt. Und von einem visuell merkwürdige Assoziationen auslösenden Klingelschild ausgerechnet des deutschen Generalkonsulats.

Auch sich selber verschont Tukur. Er erzählt, das ist die biographische subkutane Schicht, von seinem Leben, von seinem Weg, die ihn über eine gescheiterte Ehe schließlich bis nach Venedig führte. Und deutlich wird, dass die Karriere des dieses Jahr 50 Jahre alt gewordenen Mimen keineswegs so gerade oder so zielstrebig war, wie dies den Bewunderern des Multitalents Tukur – Schauspieler, Rezitator, Swingmusiker – aufscheinen mag.

Da er auch einen kleinen Weinberg auf der terra ferma erworben hat und sich das Steckenpferd selbst erzeugten Weines leistet, hat er auch zwei abseitige Geschichten über dieses kleine Bergdorf im Köcher, über ein Schwesternpaar, das dort seit Jahrzehnten eine Restauration betreibt. Zugleich ist dies in nuce auch eine Geschichte des Nachkriegsitaliens.

Dieses schöne und vor allem ungemein schön, einnehmend ironisch und in schlackenloser Prosa erzählte Buch, eine weitere Überraschung, das diese Geschichtensammlung auszeichnet, ergänzt die riesige Bibliothek von Veneziana aufs trefflichste und graziöseste.

Was es mit der Seerose im Speisesaal auf sich hat, die der Titel als Rätsel annonciert, auch das wird schließlich gelüftet. Und auch dies Geheimnis zeugt von Eleganz und Anmut in Gestalt althergebrachter und formvollendeter Manieren.


Das Buch:


Ulrich Tukur: Die Seerose im Speisesaal. Venezianische Geschichten. Claassen Verlag, 2007

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