Die Engel sind unter uns
admin | Posted 27/11/2007 | Podcasts | Keine Kommentare »“Weltliteratur
In der Mythologie der Norweger haben sie ihren festen Platz. Neben allerhand Wald- und Wiesentrollen, Wasser- und Sumpfgeistern werden immer wieder auch Engel gesichtet. Prinzessin Märtha Louise gründete unlängst gar ein Institut, das Begegnungen mit den flüchtigen Geisteswesen fördern soll. So weit die Folklore. Aber die himmlischen Heerscharen gibt es wirklich und sie sind mitten unter uns – das ist die literarische Prämisse des jungen Norwegers Karl Ove Knausgård.
“Alles hat seine Zeit” heißt sein 640 Seiten dicker Roman. Die Geschichte der Cherubim ist der rote Faden, dem er mit souveräner Leichtigkeit von der Urgemeinde im Garten Eden über die Erzählung von Kain und Abel, Noah und der Sintflut bis ins heutige Norwegen folgt. “Es war naiv und vermessen, eine aberwitzige Dummheit”, wundert er sich selbst im Gespräch mit Seite 4.
In der Tat: “Alles hat seine Zeit” ist ein tolldreistes Wagnis mit einem gewaltigen Sujet. Im Alten Testament werden Sündenfall und Brudermord mit einigen dürren Zeilen erwähnt. Und gerade dieses Ungefähre des Mythos habe ihn gereizt, sagt Knausgård: “Vieles bleibt in den Schriften unerwähnt, doch wer den Blickwinkel nur ein wenig verschiebt und einen festen Punkt setzt, dem tut sich ein ganzes Universum auf.”
So geraten ihm die Erzählungen vom ungleichen Bruderpaar Kain und Abel, vom Eremiten Lot und seinen Töchtern, vom Propheten Noah und dessen Schwester Anna zu komplexen, psychologisch aufgeladenen Familiengeschichten.
Auch mit bekanntem Ausgang wird das niemals langweilig, zumal Knausgård in seinem raffiniert komponierten Roman nicht nur mit Anachronismen, sondern auch mit geografischen Verschiebungen spielt. Kurzerhand verpflanzt er seine biblischen Gestalten in das bäuerliche Norwegen des 19. Jahrhunderts mit seiner rauen Fjord- und Berglandschaft.
“Als ich ihnen erlaubte, dass sie auf Skiern laufen, Bärenfellmützen tragen und Schnaps trinken durften, wurde es leichter für mich.” Nach Christi Tod bleiben die gefallenen Engel ohne göttlichen Auftrag in der Welt. Knausgård beschreibt sie als archaische Kreaturen, mit Schwert und Rüstung, Totenschädeln und Reptilienblick.
Als Elfjähriger sieht der Italiener Antinous Bellori zwei Engel in einem Fluss, die sich mit gierigen Schnabelhieben über einen Fisch hermachen. “Nie zuvor im Leben hat er solche Angst gehabt. Gleichzeitig will er, dass sie bleiben, so, als nähme etwas in ihm die Leere wahr, die ihre Abwesenheit hervorrufen wird, sodass er sich für immer an diesen Ort, zu diesem Augenblick zurücksehnen wird.”
Auch der gereifte Forscher findet keine Ruhe mehr, bis er nach Jahren der Wanderschaft sein umfassendes Werk “Über die Natur der Engel” verfasst. [pagebreak]
Die Feuer lodern, die Flut steigtDie faustische Erzählfigur aus dem 17. Jahrhundert ist reine Fiktion. Und eine Hommage an die Gelehrten der Spätrenaissance und des Barock, die auf ihrer Suche nach dem Nabel des Universums ein Weltbild umwarfen und so die Geburt der Moderne einleiten. Entrückte Genies, fanatische Alchimisten, ketzerische Theoretiker wie Descartes, Newton, Leibniz, Pascal. “Ein geistiger Aufschwung in ungeahnte Höhen