“Für mich ist er ein Erleuchteter”
admin | Posted 14/11/2008 | Belletristik | Keine Kommentare »"Der kleine Bruder" beschliesst Sven Regeners Trilogie um Frank Lehmann. Der letzte Roman bildet den Mittelteil – und er zählt die Geschichte einer Abnabelung. Seite 4 traf Sven Regener in Berlin.
"Herr Lehmann" erschien 2001, "Neue Vahr Süd" 2004, das ergibt fast 900 Seiten und zwei Dutzend Figuren. Mussten Sie gelegentlich nachschlagen, oder hatten Sie noch alles im Kopf?
Na, wenn ich das nicht wüsste – wer dann? Ich habe das anfangs nicht getan. Die Vorgänger liegen durchgearbeitet da, alles wirkt sehr organisch, während die ersten Kapitel des neuen Buchs noch nicht so rund
sind. Das kann einschüchtern. Ich habe aus dem Gedächtnis gearbeitet und später nachgeschlagen, um
sicherzugehen, dass ich nicht die falschen Namen vergebe.
Aber in "Neue Vahr Süd" gibt es schon ein paar Kapitel, da dachte ich beim Wiederlesen: "Ah, genau,
das war ja auch noch drin!"
"Neue Vahr Süd" endet 1980 mit Frank Lehmanns Fahrt nach Berlin, genau da setzt "Der kleine Bruder" ein. Und viele Figuren sind bereits eingeführt. War das letzte das leichteste Buch?
Auf eine Weise war es das. Bei "Herr Lehmann" hatte ich keine Erfahrung, das Selbstvertrauen war nicht
ganz so groß. "Neue Vahr Süd" war sicher der schwierigste Roman – nicht nur wegen des langen Zeitraums,
den er behandelt, sondern auch wegen der zwei Welten, in denen er spielt …
Frank nabelt sich von seinem Elternhaus ab und zieht in eine friedensbewegte WG, muss aber seinen Wehrdienst ableisten …
… und auf diese Welten musste ich mich sehr stark einlassen, um nicht in Klischees zu verfallen. Man muss ja
verstehen, wie das jeweils funktioniert, sonst kapiert man dieses ständige Umherspringen und Franks damit
einhergehende Verwirrung ja gar nicht.
Das ist sehr komplex. "Der kleine Bruder" ist demgegenüber eher wie eine dunkle Ballade.
Deshalb auch das dunkle Cover?
Es wird ja nie richtig Tag in diesem Buch. Frank ist sowieso nur knapp zwei Tage da.
In dieser Zeit sucht er seinen Bruder, von dem niemand zu wissen scheint, wo er ist. Der Bruder wird im Laufe der Trilogie immer abwesender: In "Neue Vahr Süd" ist er Vorbild, der große Künstler in der großen Stadt, in "Herr Lehmann" ist von ihm kaum noch die Rede. So erzählt "Der kleine Bruder" eine Abnabelungsgeschichte.
Ganz genau. Aber es ist eine Abnabelung wider Willen. Der große Bruder ist ja nicht da, obwohl er der Einzige
zu sein scheint, der Frank helfen kann. Er tut das auch auf eine Weise, die man allerdings nicht bemerkt. Und
am Ende stellt Frank fest, dass er mit seinem Leben mindestens so gut klarkommt.
Wenn man die Trilogie auf ein großes Thema bringen will, dann handelt sie von der Suche nach Freiheit. Einverstanden?
Ja. Von der Suche nach einer würdigen, selbstbestimmten Existenz, würde ich dazu noch sagen.
Was meint würdig?
Für Frank bedeutet das, dass er so leben kann, wie er will, dass er von den Zumutungen seiner Umwelt verschont bleibt, sich nicht hineinreden lässt.
Das ist sehr wichtig in "Herr Lehmann", wo ihm alle sagen: "So kannst du doch mit 30 nicht mehr leben!", und er sagt: "Das entscheide ich selber! Solange ich sage, dass man so leben kann, lebe ich so!"
"Ich will bloß nicht gezwungen werden, etwas zu tun, was ich nicht will", lautet sein erstes Gebot.
Genau. Im Grunde handelt es sich um einen klassischen Romankonflikt: der Einzelne in seiner sozialen Umgebung, der sich gegen das Kollektiv behaupten muss oder am Konflikt untergeht, je nachdem.
Bei Frank geht es mal besser, mal schlechter. Er ist ein sehr freiheitsliebender Mensch. Deshalb gerät er immer wieder in Konflikte mit der Gesellschaft.
Man überliest diesen Ernst leicht, weil die Romane irrsinnig komisch sind. Als Sie auf der lit.cologne die ersten Kapitel des neuen Buchs lasen, fingen die Zuhörer nach eineinhalb Sätzen an zu lachen …
(lacht) … weil dieser zweite Satz ja aber auch so lang ist …
… sie hörten aber nicht mehr auf. Schreiben Sie auf Pointen hin?
Das kann ich gar nicht, das lässt sich aber auch nicht vermeiden. Ich habe zwar eine diebische Freude daran, denke mir bei einer Szene aber nicht: "Die wird jetzt komisch."
Franks Problemlösungen bergen eine gewisse Komik in sich, es kommt nur darauf an, sie herauszuholen. Meistens legt sie sich sogar selber frei.
Noch mehr als die Vorgänger ist "Der kleine Bruder" ein Künstlerroman. Wir tauchen ein in die Westberliner Avantgardeszene um 1980 und lernen Bands wie "Dr. Votz" kennen.
Nebenbei bringt Franks Freund Karl den Kunstdiskurs der Moderne auf den Punkt: "Es ist Kunst, wenn ich sage, dass es Kunst ist. Und dann muß ich noch mindestens einen finden, der mir das glaubt. Dann ist es Kunst."
Frank sagt nichts dagegen. Wie ist es mit Ihnen?
Frank weiß es nicht besser. Und ich weiß auch nicht, ob jemand Karl widersprechen könnte. Die Haltung ist einfach unschlagbar: "Ich bestimme das, einer muss es ja tun. Und wieso nicht ich? Ich bin nämlich der Künstler hier."
Ich denke ähnlich wie Frank: Mir ist das relativ egal. Wenn mir jemand sagt: "Das ist Kunst!", sage ich: "Okay!"
Ob ich das ernst nehmen oder gut finden muss, ist eine andere Frage.
Angenommen, sie handelten nicht von ihm: Würde Frank Lehmann Ihre Bücher schätzen?
Keine Ahnung, das ist mir im Grunde auch egal.
Ist er ein Lebenskünstler?
Zumindest sagt seine Mutter ihm immer wieder, dass sie sich um ihn keine Sorgen macht – um den älteren Bruder schon.
Offenbar verfügt er über Instinkte, die ihn schützen.
Wissen Sie, wieso er eine so konsensfähige Figur ist?
Ich mochte ihn von Anfang an. Inzwischen glaube ich, dass Frank Lehmann ein edler, strahlender Held ist, dem man das nur nicht ansieht.
Für mich ist er ein Erleuchteter – aber nicht im buddhistischen Sinn. Der Typ, den David Carradine in der Fernsehserie "Kung Fu" in den 70ern verkörperte, ist ein ganz guter Vergleich: ein Einzelgänger, der auch seine Probleme hat, aber gelernt hat, mit ihnen umzugehen.
Und was machen wir jetzt mit den fehlenden acht Jahren im Leben des Herrn Lehmann?
Hinnehmen. Mich interessieren an dieser Figur ja die Wendepunkte, nicht der lange ruhige Fluss. Es ist doch eine tolle Sache, die Zeit zwischen 20 und 30 so zu verbringen wie er.
Er hat seinen Weg gefunden. Und das ist ihm ja auch zu gönnen.
Sven Regener: Der kleine Bruder, Eichborn Berlin,
304 Seiten, 19,95