Keine Schüsse, keine Leichen
admin | Posted 27/03/2009 | Autoren | Keine Kommentare »
Georges Simenon schrieb einfache Geschichten – und gilt als einer der
grössten Romanciers der französischen Literatur. Jetzt erscheinen seine
Maigret-Krimis in 75 Bänden neu – eine gute Gelegenheit, den Kommissar
wiederzuentdecken.
Um das Schreiben zu lernen, las der Autodidakt Georges Simenon Groschenromane.
Ihre Autoren, glaubte er, beherrschten die Regeln des Erfolgs und der perfekten Dramaturgie am besten. Unter wechselnden Pseudonymen schrieb er selber Hunderte von Fortsetzungs- und Illustriertenromanen.
Er nannte das seine Lehrzeit. Die nächste Etappe war der Kriminalroman: "Auch wenn das dritte Kapitel schlecht ist, lesen die Leute bis zum Schluss."
Er bezeichnete seine Krimis als "Semiliteratur". Im Weiteren ging es ihm darum, die konsequente Vereinfachung der stilistischen Mittel zu perfektionieren.
Zur Begründung seines ästhetischen Programms berief er sich auf Racine: "In ,Phädra’ kommen nur achthundert verschiedene Worte vor."
1927 erfand er auf seinem Schiff "Ostrogoth" Kommissar Maigret.
Weil es an Bord feucht und kalt war, stellte ihm Simenon einen Kachelofen ins Pariser Polizeipräsidium. "Maigret und Pietr der Lette" lautet der Titel.
Es war das erste Buch, das Georges Simenon unter seinem eigenen und vollständigen Namen erscheinen ließ.
KÜHL KALKULIERT
Der Verleger befürchtete einen Flop, bestellte aber dennoch ein Dutzend Maigrets.
Tatsächlich haben die Bücher die horrenden Vorschüsse nicht immer – nicht umgehend – eingespielt. Auch sonst war Simenon ein Schrecken für jeden Verleger.
Die Presses de la Cité mussten ihm vom 20. Tausend an 20 Prozent des Ladenpreises abtreten. Zudem behielt er die Film- und Nebenrechte für sich.
Alles Malerische war Simenon fremd und jedes Ausschmücken ein Gräuel. Vorworte und Einleitungen hasste er.
Adjektive brauchte er nur, wenn sie unvermeidlich waren. Abstrakte Begriffe fürchtete er wie der Teufel das Weihwasser: Sie verwirren die Leser.
"Ich habe sie vermieden und nur ,mots-matière’ verwendet: Tisch, Stuhl – ein Baum. Jeder weiß, was das ist.
Ich kannte die Namen aller exotischen Pflanzen, die ich auf meinen Weltreisen sah – ich habe sie nie erwähnt. Ich habe nie von Flammenbäumen geschrieben, die im übrigen wirklich prächtig sind."
Nach 18 Maigret-Krimis fühlte sich Simenon so sicher, dass er ohne Netz und Geländer "reine" Romane zu schreiben begann, mit der gleichen Besessenheit, in einem Zustand der Trance.
Auch seine Meisterwerke ohne Maigret entstanden stets in einem Zug: "Jeden Morgen, punkt sechs Uhr, begann ich zu schreiben, stets ein Kapitel, jedes genau 20 Seiten umfassend, maschinengeschrieben, und das gab dann einen Roman.
Bis zum letzten Kapitel hatte ich keine Ahnung, wie die Geschichte ausgehen würde.
Beim Schreiben war ich gezwungen, die Fenster zu schließen und die Vorhänge zuzuziehen. Wenn ich an einem Roman arbeitete, der im Winter spielte, und plötzlich die sommerliche Sonne ins Zimmer drang, störte mich das, und ich verlor den Boden unter den Füßen.
Ich lebte und arbeitete nur bei Kunstlicht.
Und für die 20 Seiten benötigte ich stets die gleiche Zahl von Stunden und Minuten. Es wäre mir auch völlig unmöglich gewesen, einen Roman um fünf Uhr nachmittags zu beginnen.
Ebenso konnte ich nie mitten im Kapitel aufhören, und wenn ich trotzdem dazu gezwungen wurde, musste ich das Manuskript fortwerfen."
Als einer der Ersten hatte in den 30er-Jahren André Gide, mit dem er Briefe wechselte, Simenons literarische Qualitäten erkannt.
Er hielt ihn für "einen großen Romancier, für den größten vielleicht und den authentischsten der heutigen französischen Literatur".
Zu einem Zeitpunkt, da diese Literatur weltweit führend war. Ein anderer Nobelpreisträger, François Mauriac, zählte ihn zu den Vätern des Antiromans – noch sprach niemand von einer Literatur des Absurden.
Von Henry Miller bis Gabriel García Márquez haben sich die bedeutendsten Dichter hymnisch über den Kollegen geäußert.
Er wurde nicht nur seiner Produktivität wegen mit Balzac und Zola verglichen.
Auf dem Höhepunkt seiner dichterischen Reife schrieb er Romane, in denen er die Gesetze der Gattungen, durch die ihn seine Lehrzeit geführt hatte, auf den Kopf stellte:
Krimis ohne Schüsse und Leichen. Nicht die Suche nach dem Täter muss die Leser bei der Stange halten, es geht einzig um die Psychologie der Handlung, um die Vorgeschichte.
Der Mord ist nicht der Anfang, er steht am Schluss und ist die notwendige Konsequenz.
Aber auf Maigret hat er gleichwohl immer wieder zurückgegriffen.
BÖSE OPFER
Mauriac fand in diesem Werk die "gemeinsamen Obsessionen unserer Zeit".
Doch Simenon ging es nicht um eine Epoche, er wollte der "Dichter des Unbewussten" sein, der Sigmund Freud der Literatur, aber so wissenschaftlich wie Darwin.
Seine geniale Trouvaille war "l’homme nu", der nackte Mensch: "Der Mensch, der uns allen gemein ist, nur mit seinen Grund und Urinstinkten – schon lange bevor ich Freud gelesen hatte, war mir die Wichtigkeit des Unterbewusstseins bewusst. Ich möchte fast sagen, dass es intelligenter ist als wir, unser bester, verlässlichster Führer."
Deshalb hielt er "jedes Strafgesetz für illusorisch".
Auch in seinen Krimis werden, lange bevor dies Mode wurde, die Grenzen von Gut und Böse verwischt. Die Opfer sind oftmals die größeren Gauner als die Täter, und Maigret ist oftmals der Einzige, der die Mörder versteht.
Jeweils vier Maigret-Bände der Diogenes-Gesamtausgabe erscheinen seit Dezember 2008 pro Monat.
Text: Georges Neuvecelles