Skizzen eines jungen Genies: «Die Karte meiner Träume»
Petra Bohm | Posted 07/10/2009 | Autoren | Keine Kommentare »
Vor einem Jahr war der Amerikaner Reif Larsen noch ein unbeschriebenes Blatt…
Damals gerade 28-jährig, in der Nähe von Boston aufgewachsen und mit einem Master-Diplom der New Yorker Elite-Universität Columbia in der Tasche, schrieb Larsen seinen ersten Roman. «The Selected Works of T.S. Spivet» schlug wie ein Blitz in der Verlagswelt ein. Das Manuskript erzielte bei einer Auktion knapp eine Million Dollar, ein ungewöhnlich hoher Preis für ein Debüt. 22 Länder erwarben seitdem die Rechte. In Deutschland trägt Larsens Roman den Titel «Die Karte meiner Träume».
Das Buch weicht schon durch sein fast quadratisches Format von der Norm ab. Wer es aufschlägt, findet die Zeilen nur zu zwei Dritteln beschrieben. Der breite Rand ist Illustrationen, Diagrammen und Notizen gewidmet. Sie erregen die Neugier, sind zweifellos ein faszinierender Blickfang, werden mit der Zeit aber ermüdend. Wer sie auslässt, kann den Clou einer Handlung verpassen. Wer sie zuerst liest, greift unter Umständen der Erzählung vor, und sie büßt dadurch an Spannung ein.
«Die Karte meiner Träume» ist die Geschichte des zwölfjährigen Tecumseh Sparrot (T.S.) Spivet. Er lebt auf einer Ranch in Montana, nahe der kanadischen Grenze, genau an der Wasserscheide zwischen dem Westen und dem Osten Nordamerikas. T.S. ist ein genialer Beobachter. Das mag daran liegen, dass seine Mutter – ebenso wie schon deren Mutter – eine Wissenschaftlerin ist. T.S. nennt sie Dr. Clair, eine Anrede, die die Distanz zwischen den Beiden reflektiert und die unter allen Spivets herrscht.
Auf ihnen lastet der Tod eines Familienmitglieds. Tecumsehs Bruder Layton kam durch eine Kugel ums Leben – ein Unfall, den er mitverschuldet zu haben glaubt. Der Vater, ein Cowboy vom Scheitel bis zur Sohle, spült die Trauer mit reichlich Whiskey runter. Die Mutter zieht sich noch mehr in ihr Arbeitszimmer zurück, und T.S. beginnt in seiner Verzweiflung, die Umwelt zu kartographieren: Die Anatomie von Vögeln und Glühwürmchen, die Berge rund um die Ranch, die Schallwellen eines Schusses aus dem Winchestergewehr, den verwaisten Platz am Abendbrottisch, die Beerdigung.
Ein Kollege der Mutter sieht seine Zeichnung von dem Käfer Carabidae brachinus und reicht sie als Forscherbeitrag für einen Wettbewerb ein. T.S. gewinnt und wird von der Smithonian Institution nach Washington geladen, um den Preis anzunehmen und einen Vortrag zu halten. Obwohl auch ihm klar ist, dass die Veranstalter keinen Minderjährigen erwarten, reißt er aus und legt die lange Strecke quer durchs Land als blinder Passagier im Zug zurück.
{cms:image:2}Reif Larsens Roman ist ein Kunstwerk mit Schwächen, einfühlsam, humorvoll und herzzerreißend zugleich. US-Kritiker vergleichen das Abenteuer von T.S. Spivet mit denen des Huckleberry Finn. Andere erinnern die Einsamkeit und Ängste des Zwölfjährigen T.S. Spivet an die des 17-jährigen Holden Caulfield in J.D. Salingers «Der Fänger im Roggen»…
Der amerikanische Horrorautor Stephen King schrieb voller Begeisterung: «Hier ist das Buch, das das Unmögliche schafft. Es verbindet Mark Twain, Thomas Pynchon und ‘Little Miss Sunshine’.» Leider verliert sich Larsen in der Mitte seines Buches in eine langatmige Beschreibung der Familienhistorie. Möglicherweise unter Zeitdruck kommt er zu einem Ende, das dem Anfang nicht gerecht wird.
© Gisela Ostwald/dpa