Morden im Norden

Books | Posted 15/06/2010 | Krimis | Keine Kommentare »
Was macht skandinavische Krimiautoren so erfolgreich? Bei allen Unterschieden vielleicht eines: Dass viele von ihnen keine Geschichten über Verbrechen erzählen, sondern von Menschen, die zu Opfern und Tätern werden.
Mikael Blomkvist, der Held aus Stieg Larssons Erfolgskrimi «Verblendung», ist kein aufmerksamer Vater. Doch zu Weihnachten besucht er seine Tochter: «Pernilla bekam einen Computer, den sie sich gewünscht hatte und den Mikael und Monica gemeinsam gekauft hatten. Mikael bekam eine Krawatte von seiner Exfrau und einen Åke-Edwardson-Krimi von seiner Tochter.»
Stieg Larsson ist nicht der einzige schwedische Autor, der in einem seiner Krimis einem anderen Autor seine Referenz erweist. Auch Liza Marklund bezieht sich in ihrem Buch «Lebenslänglich» auf das Werk eines Kollegen. Während einer Besprechung der jungen Polizistin Nina Hoffmann mit ihrem Dienstgruppenleiter Pettersson macht dieser seinem Pessimismus Luft: «Was für eine entsetzliche Geschichte, wo soll das mit unserer Gesellschaft noch hinführen?» Nina denkt sich: «Er hört sich an wie Kommissar Wallander.»
Jung, blond und erfolgreich
Auch wenn sich Skandinaviens Krimiautoren aufeinander beziehen, heisst das nicht, dass sie eine grosse, glückliche Familie sind – vor wenigen Jahren flogen gewaltig die Fetzen. In einem Interview fällte der 65-jährige Kriminologe und Buchautor G.W. Persson über seine Kollegin Camilla Läckberg das wenig schmeichelhafte Urteil, sie schreibe «im Stil dümmlicher Kinderbücher» und lege ihre Krimis an wie «Kitschnovellen für Pferdemagazine». Die öffentlich Getadelte zögerte nicht lange und schoss zurück: «Das ist einfach Pisse von einem älteren Herrn, der sich irgendwie übergangen fühlt.» Doch ein weiterer schwedischer Autor teilte Perssons Urteil. Ernst Brunner verglich die Krimis junger Autorinnen mit der «Scheisse von Möwen, die meine Insel in den Stockholmer Schären kaputtmachen.» Björn Ranelid legte sich gar mit Schwedens grösster Erfolgsautorin an. Er verkündete, eine Million Schweden könne schreiben wie Liza Marklund – die immerhin über neun Millionen Bücher verkaufte. Allerdings störte sich Ranelid vor allem am Foto der blonden jungen Autorin, das auf all ihren Büchern prangt. «Wenn das so weitergeht, wird die Belletristik untergehen», unkte er. Offensichtlich tobte ein Konflikt entlang der Geschlechter- und Generationengrenze. Deshalb überrascht das Urteil der Krimiautorin Mari Jungstedt nicht; als Ursache der Schlammschlacht sah sie die Verzweiflung von Männern, die es «nicht ertragen können, von erfolgreichen und schönen Frauen aus dem Feld geschlagen zu werden».
Lackmustest für die Gesellschaft
Trotz Neid und Streit haben Schwedens Krimiautorinnen und -autoren etwas Besonderes geschafft: Sie haben ihre Herkunft zu einem Qualitätssiegel gemacht und das Genre neu belebt. Doch gibt es sie wirklich, die «Schwedische Krimischule»? «Wir Schweden denken gerne, dass wir die perfekte Gesellschaft kreiert haben», meint Liza Marklund selbstkritisch, «und wir glauben, dass das Problem aller anderen ist, dass sie keine Schweden sind.» Schwedens Krimiautoren hätten «als erste registriert, dass wir keineswegs so perfekt sind», glaubt die Autorin. Tatsächlich stochern viele skandinavische Autoren in den Wunden der Gesellschaft, statt einfach klassische «Wer-hat-es-getan» mit einem immergleichen Meisterdetektiv zu schreiben. Sie zeichnen ein vielschichtiges Bild der Verbrechen, der handelnden Personen und der Gesellschaft, in der ein Verbrechen begangen wird.
Die Eltern des Genres
Als «Eltern» dieses Krimistils gelten Maj Sjöwall und ihr 1975 verstorbener Mann per Wahlöö. Die beiden bekennenden Marxisten schrieben während zwölf Jahren zehn Romane um Kommissar Martin Beck. Die Romane des Paars gelten auch heute noch als Massstab für sozialkritische Krimiliteratur. Maj Sjöwall, die heute Krimis übersetzt, meint: «Wir wollten die Form des Kriminalromans nutzen, um eine Gesellschaft zu beleuchten». So wie Wahlöö und Sjöwall haben viele skandinavische Autoren seismografisch auf gesellschaftliche Veränderungen und Missstände reagiert und über Fremdenhass, entfesselten Kapitalismus, den Fall des eisernen Vorhangs, Jugendgewalt oder die Entsolidarisierung der Gesellschaft geschrieben – Mord und Totschlag waren nur die tragischen Folgen.
Gewalt als Symbol
Diese Folgen beschreiben skandinavische Autoren oft drastisch – zum Beispiel Arne Dahl. Doch in der Regel ist Gewalt nicht Selbstzweck. Åke Edwardsson meint: «Der Krimiautor trägt vielleicht die grösste Verantwortung von allen: Jemand, der über Gewalt und die Mechanismen von Gewalt, über die existentielle und soziale Tristesse schreibt, ist verpflichtet, auch einen Hauch von Empathie und Humanismus in sein Schreiben einfliessen zu lassen.» Diese Haltung teilt Karin Alvtegen, die Grossnichte von Astrid Lindgren. Auch sie ist eine erfolgreiche Krimiautorin: «Wenn man in einem Genre schreibt, das meistens mit Mord, Tod und Elend zu tun hat, dann, finde ich, habe ich auch die Verantwortung, meinen Lesern dem noch etwas anderes entgegenzusetzen: Empathie, Respekt für den Menschen und dass man sich den Konsequenzen seiner Handlungen bewusst sein muss. Gewalt ekelt mich an.» Oft bedienen sich die Autoren nur deshalb der Gewalt, um gesellschaftliche Zustände, das Schicksal eines Menschen oder seinen Gemütszustand symbolisch darzustellen. Im Vordergrund steht das Interesse an Tätern, Opfern und Ermittlern als Menschen.
Menschen unter der Lupe
Liza Marklund will Romane über Frauen schreiben, «die wie ich und meine Freundinnen leben. Die verheiratet sind, Kinder haben, zu viel arbeiten, Ärger in der Familie haben und zu wenig Sex.» Ihre Romanfigur Annika Bengtzon leidet unter ihrer Doppelbelastung als Journalistin und Mutter und verliert ihr Selbstvertrauen, als ihr Mann sie wegen einer Affäre verlässt. Vielen männlichen Ermittlern geht es nicht viel besser; sie sind einsame Eigenbrötler oder grantige Querköpfe wie Kurt Wallander von Henning Mankell oder Kommissar Gunnarstranda von Kjell Ola Dahls. Eine Ausnahme bildet Erik Winter, Åke Edwardssons Hauptkommissar aus Göteborg. Er lernt die Ärztin Angela kennen, sie wird schwanger und das Paar zieht zusammen. Im achten von elf Winter-Romanen nimmt sich der Polizist eine Auszeit und zieht mit seiner Familie an die spanische Costa del Sol. Doch auf die Frage, ob Erik Winter glücklich sei, erwidert Åke Edwardssons: «Nein, das glaube ich nicht. Er versucht es, aber Glück ist ein schwieriges Wort. Vielmehr geht es darum, sein Gleichgewicht im Leben zu finden. Erik brauchte diese sechsmonatige Auszeit in Marbella, um etwas Abstand von all dem Dunklen zu gewinnen, dem er in seinem Leben als Polizist ausgesetzt ist.» Wir nehmen am Leben der skandinavischen Ermittler teil – viel stärker als an jenem von Sherlock Holmes oder Hercule Poirot. Henning Mankell erklärt: «Wallander ändert sich andauernd, wie Sie und ich sich ändern. Das macht ihn lebendig.»
Vom Buch zum Film
Die vielseitigen Stärken der schwedischen Krimis ziehen nicht nur viele Leserinnen und Leser in ihren Bann, sondern locken auch die Filmindustrie auf der Suche nach neuen Stoffen. Zahlreiche schwedische Krimiautoren haben ihre Rechte an die schwedische Produktionsgesellschaft Yellow Bird verkauft, die schon die Mankell-Verfilmungen mit Keneth Brannagh oder Stieg Larssons Millennium-Trilogie fürs Kino aufbereitete. Zurzeit sind Verfilmungen der Annika-Bengtzon-Romane von Liza Marklund, der Krimis von Jo Nesbø und von Mankells «Der Chinese» in Vorbereitung. Die Welle aus Schweden wird also in den nächsten Jahren auch im deutschsprachigen Raum von den Buchhandlungen ins Kino überschwappen. Und auch hier gibt es ein altes Vorbild: Einer der bekanntesten Romane des Duos Sjöwall und Wahlöö heisst «Mord im 31. stock». Der medienkritische Krimi kam schon 1982 unter dem Namen «Kamikaze 1989» mit Rainer Werner Fassbinder in der Rolle des Kommissars in die Kinos.
© Benjamin Gygax/books.ch
Neu oder bewährt: Krimis aus Skandinavien
Leopard
Jo Nesbø
698 Seiten | CHF 39.90 | Ullstein
Als eine Serie grausamer Morde Oslo erschüttert, kehrt Harry Hole aus Hongkong zurück. Die Spuren führen ihn von Norwegen nach Ruanda.
Letzter Gruss
James Patterson, Liza Marklund
350 Seiten | CHF 35.90 | Limes
Der New Yorker Cop Jacob Kanon will die Mörder seiner Tochter fassen – gemeinsam mit der schwedischen Reporterin Dessie Larsson.
Dunkelziffer
Arne Dahl
415 Seiten | CHF 34.90 | Piper
In Nordschweden verschwindet die 14-jährige Emily. Die Spuren führen Kerstin Holm ins Internet, wo die junge Emily ihre eigene Rolle spielte.
Blutfeinde
Kjell Ola Dahl
400 Seiten | CHF 17.90 | Lübbe
Ein Polizeibeamter wird erschossen aufgefunden. Kommissar Gunnarstrandas Ermittlungen werden aus den eigenen Reihen torpediert.
Auf der falschen Spur
Leena Lehtolainen
416 Seiten | CHF 17.90 | Rowohlt
Journalistin Jutta Särkikoski deckt einen Dopingskandal auf und erleidet einen dubiosen Unfall. Als auch noch ein Mann vergiftet wird, ist Maria Kallio alarmiert.
Schuld
Karin Alvtegen
237 Seiten | CHF 16.90 | Dumont
Ein abgetrennter Zeh ist das makabre Geschenk einer Stalkerin für ihr Opfer. Peter Brolin, der ahnungslose Kurier, macht sich auf die Suche nach ihr.
Die Tote im Götakanal
Maj Sjöwall, Per Wahlöö
272 Seiten | CHF 17.90 | Rowohlt
Kommissar Martin Beck steht im ersten Band der berühmten Serie vor einem absoluten Rätsel: Einer toten Frau im Götakanal.
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Titel:
Zimmer Nr. 10

ISBN-13:
978-3548607610

Autor:
Åke Edwardson

Verlag:
Ullstein

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