Zu schrecklich um wahr zu sein?

Petra Bohm | Posted 13/03/2013 | Sachbuch | Keine Kommentare »

Dass Muammar al-Gadaffi – sagen wir’s mal salopp – einen Knall hatte und ein brutaler Diktator war, ist so ziemlich jedem klar. Was er hunderten, wahrscheinlich tausenden Frauen und deren Familien in den Jahren seiner Regentschaft antat, musste die französische Le Monde-Journalistin Annick Cojean aufdecken – in der libyschen Gesellschaft ist das Thema Vergewaltigung auch nach der Revolution absolut tabu…

Schade, dass sich die Boulevardblätter so auf das Erscheinen dieses – ich muss es vorab sagen GROSSARTIGEN, berührenden und WÜTEND machenden Buches gestürzt haben, denn die geschilderten Ereignisse klingen auch ohne reißerische Aufmacher schon fast zu schrecklich, um wahr zu sein. Doch die Quellen sind belegt und für ihre mutige Recherche erhielt Annick Cojean den Grand Prix de la Presse Internationale 2012…

Bei ihren Recherchen über die Rolle der Frauen während der libyschen Revolution traf die Journalistin in Tripolis die 22jährige Soraya, die ihre Lebensgeschichte erzählte und damit ein Tabu brach. Diese, aus der Perspektive der jungen Libyerin geschilderte Beichte nimmt etwa die Hälfte der knapp 300 Seiten des Buches ein. Und was man/frau da erfährt, lässt auch hartgesottene LeserInnen entsetzt Luft holen oder innehalten. Soraya wurde (wie viele (!!!) andere minderjährige Mädchen) als komplett naive, muslimisch erzogene Fünfzehnjährige von Gaddafis Schergen bei einer Schulveranstaltung “ausgewählt”, in dessen Palast als Sexsklavin entführt und dort über mehrere Jahre gefangen gehalten. Der permanent mit Viagra gedopte Gaddafi misshandelte und missbrauchte sie fast täglich, ebenso wie andere Mädchen und Knaben, junge Offiziere, Gattinnen und Töchter von Offizieren und auch von Diplomaten anderer afrikanischer Länder und dies mit Unterstützung eines ganzen Stabes eingeweihter HelferInnen. Im Kontext unwichtig, aber interessant: “Papa Muammar” hat wohl quasi keinen seiner kruden öffentlichen Auftritte ohne Koksen und Kiffen absolviert. Jedenfalls das hatte ich mir schon vor der Lektüre irgendwie gedacht. Was ich nicht vermutete, war, dass seine Herrschaft zu einem nicht geringen Teil auf der brutalen Macht durch Sex und Vergewaltigung über Frauen und Erpressung ihrer Familien beruhte, in einem Land, in dem die “Ehre” einer Frau allerhöchsten Einfluss auf den Status einer Familie hat, bis hin zum Mord an “Gefallenen” durch die Brüder oder Cousins.

Soraya hat bis heute nicht mehr im Leben Fuß fassen können, ist eine zerstörte Persönlichkeit. Und sie hat sich nicht immer klug verhalten, auch Chancen vertan. Aber gerade diese Ehrlichkeit über ihre eigenen “Fehler”, machen ihre Schilderungen umso glaubwürdiger.

Im zweiten Teil des Buches schildert Annick Cojean ihre Recherchearbeit, belegt Sorayas Aussagen durch glaubwürdige Quellen, lässt zusätzliche Stimmen, von Offizieren, inhaftierten Gaddafi-Anhängern, Verbündeten und Feinden des Diktators erklingen und dieser Teil ist nicht minder erschreckend, wird doch klar, dass die Vergewaltigungsopfer nicht nur Opfer ihres Diktators, sondern auch ihrer Gesellschaft sind.

Auch Gaddafis Tod bedeutet für Soraya und ihre Leidensgenossinnen nicht das Ende ihrer Qualen – sie müssen weiterhin um ihr Leben fürchten, denn ihre Familien betrachten sie als entehrt. Und auch die libysche Gesellschaft verschließt noch immer die Augen vor dem wahren Ausmaß von Gaddafis Verbrechen und ist nicht bereit, die jungen Frauen als seine Opfer anzuerkennen und ihnen Rückhalt zu bieten.

Spannend. Erschütternd. Lesen!

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Titel:
Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis

ISBN-13:
9783351027667

Autor:
Annick Cojean

Verlag:
Aufbau Verlag

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