Altmeister aller Klassen
Books | Posted 15/05/2013 | Krimi, Orell Füssli | Keine Kommentare »Andrea Camilleri ist ungemein produktiv: In diesem Frühling erscheinen von ihm gleich mehrere neue Bücher auf Deutsch. Sie lassen erkennen, warum der Sizilianer nicht allein wegen seiner Montalbano-Krimis ein Bestseller-Autor ist…
Text: Marius Leutenegger
Es scheint einfallslos, einen Beitrag über Andrea Camilleri mit einer Bemerkung über dessen Alter einzuleiten. Doch man kommt einfach nicht umhin, fortwährend daran zu denken, wie betagt dieser Mann ist, wenn man über ihn schreibt. Denn sein Alter macht seine ohnehin eindrückliche Schaffenskraft zu einem fast wundersamen Ding: Camilleri wird diesen Sommer sage und schreibe 88 Jahre alt – und wirft scheinbar völlig unberührt von dieser Tatsache Buch um Buch auf den Markt. Es ist aber nicht allein die schiere Masse, die tiefen Respekt einflösst, sondern vor allem die hohe Qualität dieses Alterswerks: Fast jedes neue Buch von Camilleri bietet neue Überraschungen und macht Freude. Es kommt einem vor, als hätte hier einer viel Inspiration und Talent für sein Spätwerk aufgespart – und käme kaum noch nach, die vielen Ideen und Projekte, die ihm im Kopf herumschwirren, zu verwerten.
Ein Sizilianer in Rom
Ausnehmend produktiv war Camilleri aber schon immer. Bis zu seiner Pensionierung arbeitete er als Regisseur bei der RAI, der italienischen Rundfunkanstalt. Dort gingen 1300 Radioproduktionen und 80 Fernsehspiele auf sein Konto; nebenher führte Camilleri auch noch bei 120 Theaterinszenierungen Regie. Er war einer der ersten, der dem italienischen Publikum Dramatiker wie Strindberg, Beckett oder Ionesco näherbrachte. Noch heute lebt der dreifache Vater und vierfache Grossvater mit seiner Frau in der Nähe der RAI-Studios in Rom. Seine Wurzeln hat Camilleri aber in Sizilien, genauer: In der Hafenstadt Porto Empedocle in der Nähe von Agrigento. Dort kam er am 6. September 1925 zur Welt, zu einer Zeit also, als Mussolini in Italien regierte. Camilleri setzte seine Geburtsstadt auf die literarische Landkarte, indem er sie unter dem Namen Vigàta zum Schauplatz seiner berühmtesten Buchreihe machte: In Vigàta spielen die Kriminalfälle um Commissario Salvo Montalbano. Porto Empedocle war über diese Ehrung übrigens so entzückt, dass es den offiziellen Namen vorübergehend in «Porto Empedocle Vigàta» änderte – mit freundlicher Genehmigung von Andrea Camilleri, der sich seiner Heimat tief verbunden fühlt. «Ich bin Sizilianer und bleibe Sizilianer», sagte er in einem Interview. «Es gibt keinen Sizilianer, dem Sizilien nicht fehlt. Deshalb kann ich nur davon und über nichts anderes sprechen.»
Ein besonderer Menschenschlag
Tatsächlich spielt die Insel in gewisser Weise die Hauptrolle im Werk Camilleris. Fast jede europäische Macht war einmal auf Sizilien tonangebend, zuweilen gaben sich ausbeuterische Herrscher hier förmlich die Klinke in die Hand. Die Bevölkerung lernte vor diesem Hintergrund, sich selber zu arrangieren, auf die Familie zu bauen, dem Staat abgrundtief zu misstrauen, im richtigen Moment zu schweigen und diskret zu agieren. Das brachte einen aussergewöhnlichen Menschenschlag hervor – und begünstigte auch das Entstehen der Mafia. Immer wieder geht es bei Camilleri um die grossen und kleinen Klüngeleien in Gesellschaft und Politik, um diffuse Hierarchien, natürlichen Respekt – und darum, wie man in einer geheimnisvoll strukturierten Gesellschaft einen eigenen Weg findet, ohne völlig aus dem Tritt zu geraten. Auch Commissario Salvo Montalbano ist ein Einzelgänger, der vielem misstraut, aber dank seinem Hang zum Genuss als lebensfroher Schwarzseher daherkommt. Die Figur des Commissario, die er übrigens nach seinem Vater zeichnete, ermöglicht Camilleri den engagierten Positionsbezug – gegen die schlampige, jede Institution verachtende Regierungsführung von Berlusconi zum Beispiel, gegen Buckeleien, gegen den Niedergang wertvoller Beziehungsstrukturen und die Macht des Internets.
Ein greiser und weiser Jungspund
Wie Montalbano ist Camilleri aber kein Stänkerer – und auch keiner, der schwer an den Umständen leidet. Das Spätwerk von Camilleri ist deshalb so gut, weil es das Beste aus mehreren Lebensaltern vereint: den sprühenden Einfallsreichtum der Jugend, den Witz und das Selbstbewusstsein des Mannes in den besten Jahren, die Weisheit und Milde des Greises. Camilleri ist in gewissem Sinne ein Lausbub geblieben, ein zuweilen rotzfrecher sogar – aber einer, dem man nun wirklich nicht mehr erklären muss, wie der Hase läuft. Dass sein Werk so frisch daher kommt, hat vielleicht auch damit zu tun, dass Camilleri erst spät hauptberuflicher Autor wurde. Als sein erster Roman «Hahn im Korb» erschien, war er bereits 53 Jahre alt. Und Montalbano erblickte vor nicht einmal 20 Jahren das Licht der Welt. Seither schreibt Camilleri fast so schnell wie der in dieser Hinsicht unerreichbare Georges Simenon: in gewissen Jahren gleich vier Romane. Auch 2012 ist ein Camilleri-Jahr. Kindler veröffentlicht «Ein Samstag unter Freunden», die Übersetzung eines Romans von 2009, und Klett-Cotta bringt «Richter» in die Läden; diese Geschichte verfasste Camilleri 2011. Fast gleichzeitig erscheinen auch noch zwei neue Romane, auf die wir hier etwas näher eingehen wollen: «Die Sekte der Engel», herausgegeben von Nagel & Kimche, und «Der Hirtenjunge», erschienen bei Kindler.
Zumindest halbwahr
Als kulturell interessierter und beschlagener Autor hat Camilleri schon viele historische Romane verfasst. Nagel & Kimche publiziert eine Reihe von Geschichten, in denen sich der Sizilianer auf wahre, wenn auch zuweilen äusserst mysteriöse Begebenheiten abstützt – und diese gekonnt in unterhaltsame Romane packt. «Streng vertraulich» handelte von einem nichtsnutzigen äthiopischen Prinzen, der in der Mussolini-Zeit zum Studium nach Italien kam – und hier die Behörden auf Trab hielt. In «Die Münze von Akragas» erzählte Camilleri von einem Goldstück, das 400 v. Chr. verloren ging, im 20. Jahrhundert plötzlich wieder auftauchte und eine Spur aus Glück und Unglück hinter sich herzog. Der neueste Band dieser Reihe, «Die Sekte der Engel», handelt von einer mehr als seltsamen Welle von Schwangerschaften, die über eine sizilianische Kleinstadt schwappt: Unverheiratete junge Frauen tragen plötzlich dicke Bäuche vor sich her – und es handelt sich dabei ausgerechnet um die gottesürchtigsten Bürgerinnen. Der linke Anwalt Teresi, ein typischer Camilleri-Held, versucht, hinter das Geheimnis zu kommen – und sieht sich plötzlich mit Mauern von eisigem Schweigen und unverhohlenen Drohungen konfrontiert. Dass er den Skandal schliesslich aufdeckt, bringt ihm keinen Ruhm ein, sondern nur Verachtung.
Deftig und plastisch
Mit spürbarer Lust, aber fein geführter Klinge zerfetzt Camilleri den schönen Schein der Rechtschaffenheit, hinter der sich die Gesellschaft versteckt. Selbst die Bösewichter geniessen offenbar seine Sympathie – es handelt sich bei ihnen ja auch um echte Sizilianer –, schlimmstenfalls werden sie einfach mit verschmitztem Spott übergossen. Als eine Art «Volksliterat», als der er sich immer verstanden hat, spart Camilleri auch nicht mit Deftigkeiten. Und fast unerreicht ist seine Kunst, seinen Leserinnen und Lesern Schauplätze und Umstände mit wenigen Worten näherzubringen – man riecht die Kleinstadt förmlich, man spürt die Sonne brennen und erlebt die ungemütliche Situation von Teresi am eigenen Leib. Fast noch intensiver taucht man in «Der Hirtenjunge» ins Geschehen ein. Mit diesem Roman schliesst Camilleri einen Zyklus ab, zu dem auch «Die Frau aus dem Meer» und «Der Bahnwärter» zählen. In allen diesen Geschichten geht es um Metamorphosen. Diesmal steht der junge Giurlà im Zentrum. Er wächst in einem Fischerdorf auf, liebt das Meer, wird dann aber in die Berge geschickt, um dort Ziegen zu hüten. Zunächst verliebt er sich in die für ihn ungewöhnliche Landschaft – und dann in die Ziege Beba. Aus dem Fischerjungen wird ein begeisterter Bergbub. Als Giurlà Anita kennenlernt, die Tochter des Marchese, entscheidet er sich zwar für die Liebe zur Frau, aber auch Anita macht einen Wandel durch, der dem jungen Mann schliesslich die Erfüllung aller Träume ermöglicht.
Messerscharf beobachtet
Zwischendurch stockt einem beim Lesen ein wenig der Atem – Camilleri scheut sich nicht, Giurlàs Liebe zur Ziege über das Platonische hinaus darzustellen. Und der Schluss des Buchs, der hier natürlich nicht verraten wird, könnte den einen oder an- deren Leser ebenfalls etwas irritieren. Wunderschön aber sind die Beschreibungen des einfachen Hirtenlebens und der süditalienischen Landschaften. Messerscharf beobachtet Camilleri die Beziehungen der Hirten untereinander, auch hier sagt er mit ganz wenigen Worten viel. Als Einstieg ins grosse Werk des Sizilaners ist «Der Hirtenjunge» aber nur bedingt zu empfehlen; die Liebe zur Ziege, so nachvollziehbar sie hier auch dargestellt wird, lässt einfach einen etwas schalen Nachgeschmack zurück. Camilleri scheint sich dessen durchaus bewusst zu sein – denn seiner Geschichte stellt er ein Schlusswort nach, das den ganzen Schalk des Altmeis- ters erkennen lässt: «In der Antike liessen sich Metamorphosen leichter erzählen und auch leichter durchführen.»