In Sight: Der Cyborg-Autor

Die “Wingman-App” befindet: Schwierigkeitsgrad “Hard”. © Sight Systems / Eran May-raz / Daniel Lazo.
1.
In „Sight“ wird die nächste Realität gezeigt: Die Augmented-Reality legt sich per Kontaktlinse über jeden Lebensbereich. Vom Gurkenschneiden bis zum ersten Date – alles wird zum Real-Life-Game. Für jede Lebenssituation gibt es die passende App.
Per „Wingman“-App analysiert der Held des Films seine Verabredung: Schwierigkeitsgrad „Hard“. Das Programm macht ihm daraufhin Vorschläge für ein optimiertes performanceorientiertes Verhalten. Folgt er den Hinweisen, sammelt er Punkte und steigt in der Gunst der Frau. Sobald über dem animierten Herzen die 80% blinken, ist es geschafft: Sie geht mit ihm nach Hause. Doch als sie herausfindet, dass sie per App „manipuliert“ wurde und es kein authentisches Date war, stürmt sie empört davon.
Die Pointe von „Sight“ markiert die Hauptstoßrichtung im gegenwärtigen Diskurs um Cyborgs und die Technologisierung unserer Welt: Wer sich durch die technologische Aufrüstung einen Vorteil verschafft, begeht einen Betrug. Mit der Auslieferung an die Technologie entäußert sich der Mensch freiwillig seines Mensch-Seins. Und läuft schließlich Gefahr zum programmierbaren Roboter zu werden.
2.
In ihrem Essay „Ein Manifest für Cyborgs“ schlug Donna Haraway 1985 vor, „die Cyborg als eine Fiktion anzusehen, an der sich die Beschaffenheit unserer heutigen gesellschaftlichen und körperlichen Realität ablesen lässt.“
„Sight“ und seine Cyborgs sind Fiktionen. Noch. Wenn in zwei Jahren mit den „Google Glasses“ das erste Gadget für die tägliche Dosis AR auf den Markt kommt, wird die in „Sight“ gezeigte Zukunftsvision (augmentierte) Realität. Die Abwehrreflexe des traditionsorientierten Literaturbetriebs kann man schon heute ahnen.
Abgesehen von der Fixierung des Betriebs auf das gedruckte Buch als sinnliches Objekt und dem Ausstellen eines „rückwärts gewandten Lebensstils“, der Kastration des eBooks und der Herabwürdigung des Netzes als intellektualitätsmindernd, ist der augenfälligste Abwehrreflex im Betrieb angesichts der drohenden Revolution: Das Beharren auf der Authentizität des Autors.
Gegen die fluktuierenden, multiplen und inszenierten Online-Identitäten wird weiter versucht, die Authentizität des Autors und damit des authentischen Textes als einen „spezifisch literarischen Wert“ in Stellung zu bringen. Die arbiträre Aufladung einer Kunst, die vom Signifikantenspiel lebt, und der Verkauf von Texten über das Aufbauen einer Autorenpersönlichkeit kann sich deshalb im Literaturbetrieb immer nur in Skandalen entladen. Und das, während etwa im Kunstbetrieb das Authentizitätsspiel, das Samplen und die Appropriation, der Einsatz von Robotern und Maschinen längst zum Energiekern der Produktion zeitgemäßer Kunstwerke geworden ist. Über die Literatur-Skandale um James Frey oder Helene Hegemann kann man im Kunstbetrieb deshalb nur irritiert lächeln und sich fragen: woran es eigentlich liegt, dass sich die Literatur so weit von einer produktiven Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten der Gegenwart abgekoppelt hat und sich immer nur auf das berufen kann, was längst überholt ist.
3.
So läßt sich also gut prognostizieren, was mit der nächsten Literatur im alten Betrieb passiert. Den ersten Autoren, die eine „Bestseller-Writing-App“ benutzen, wird es wie dem Benutzer der „Wingman-App gehen“. Sie werden erwischt. Es wird einen Skandal geben. Sie werden ihre Literaturpreise zurückgeben müssen. Ein Hinweis auf das technische Doping des Autors wird den Veröffentlichungen hinzugefügt.
Doch genau wie heute das Publikum die Macht der alten Buchverlage ignoriert und sieben Self-Publishing-Titel in die New York Times-Bestsellerliste befördert (während die Verlage noch die Opposition „Qualitätsliteratur gegen Internetschund“ aufbauen – nur um dann die erfolgreichsten Titel in ihre Programme herüberzuretten), wird sich auch die App-Literatur ihren Platz neben der “authentischen” Literatur erobern.
Das klingt nach LitFlow-Zukunftsmusik. Ist es aber nicht. Programme schreiben schon heute journalistische Artikel. „Narrative Sciene“-Mitbegründer Kristian Hammond sagt voraus, dass ein Progamm in fünf Jahren den Pulitzer Preis gewinnen wird. Dass Maschinen über kurz oder lang auch Prosa schreiben werden, steht außer Frage.
4.
Donna Haraway schlägt in ihrem Essay weiter vor, „die Verwischung dieser Grenzen zu genießen und Verantwortung bei ihrer Konstruktion zu übernehmen.“
Und so wird es kommen. In einer konsequenten Zukunftsvision in „Sight“ wäre die Frau nicht gegangen. Sie hätte den Abend zu einem angemessenen Abschluss gebracht. Und das heißt: Sie hätte den Protagonisten selbst per „Wingwoman“-App manipuliert. Genauso lustvoll sollten die Grenzen in der Literatur verwischt werden. Die nächste Literatur wird sich nicht mit Abwehrreflexen blockieren. Sie wird mit den neuen Möglichkeiten experimentieren.
[...] auch den entsprechenden Smart Gloves nach Vorbild des Kinofilms Minority Report) die ersten Cyborg-Autoren in Sichtweite [...]