Wir wollen doch nur spielen
Die Stahlgewitter der nächsten Literatur
Einen weiteren Hinweis auf die Probleme der nächsten Literatur verdanken wir der Lektüre von Manfred Spitzers Buch Digitale Demenz – Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen. Im achten Kapitel erinnert der Hirnforscher nämlich an Constanze Steinkuehler vom Zentrum der Erziehungswissenschaften der University of Wisconsin. Die hat vor kurzem den Vorschlag gemacht, das Computerspiel World of Warcraft so einzusetzen, dass es bei den Usern wertvolle Kompetenzen fördert.
Folgt man Steinkuehler, dann lässt sich entdecken, dass man mit World of Warcraft vor allem Social Skills trainiert: “Learning how to collaborate, lead a group, or self-organize”. Wer sich im virtuellen Weltkrieg durchzusetzen weiß, der weiß eben auch, wie man unter den schlimmsten Bedingungen gemeinsam erfolgreich operieren kann. “It’s learning how to do things like coordinate large teams of 25 people to do a complex boss raid that may take you anywhere from two to four hours.”
Literarische Bildung in Stahlgewittern
World of Warcraft-Spieler können aber nicht nur das. Steinkuehler hat in ihrem Spielelabor ein paar männliche Jugendliche an die Front geschickt. Die Probanden hatten bis dahin eigentlich kaum Interesse für den klassischen Lese- und Schreibunterricht. Statt die Schule zu besuchen, saßen sie eben lieber vorm Computer und spielten ihre Spiele.
Im Labor aber passierte etwas Erstaunliches. Um sich untereinander im Durcheinander des Krieges zu verständigen und sich gegenseitig ihre Einschätzung einzelner Spielzüge und ganzer Spielzusammenhänge mitzuteilen, lasen und schrieben die Jungs “above their grade level”. Aus den lustlosen Schülern wurden plötzlich begeisterte Leser und Autoren. “They do all this labor”, konstatiert Steinkuehler, “around traditional print literacies where they’re not succeeding in school”.
Das Einsatzkommando für komplexe ökologische Textsysteme
Weil das so ist, sind für Steinkuehler nicht die Jungs daran schuld, dass sie keine Lust am Lese- und Schreibunterricht haben. Schuld sind die Pädagogen, die mit den falschen Unterrichtskonzepten arbeiten. Ihre Curricula sind immer noch so stark an der Buchkultur ausgerichtet, dass sie neue Formen des Lesens und Schreibens ignorieren. Sie blockieren damit den Schülern die Möglichkeit, sich selbst und ihre Gegenwart zu beobachten und zu verstehen, ohne dabei schlechtes Gewissen haben zu müssen.
Für Constance Steinkuehler dagegen ist klar: Die Aktivitäten am Computer weisen auf eine nächste Form der Schriftkompetenz für das 21. Jahrhunderts hin. Die orientiert sich nicht mehr an einem in sich gekehrten, konzentrierten Leser. Sie hat viel mehr mit “collective problem-solving” zu tun. Statt auf den einzelnen Leser setzt sie auf den Schwarm, der in einer “complex textual ecology” operiert. Die alte Form der mediativen Rezeption wird ersetzt durch die Aktivitäten produktiver Einsatzkommandos.
Abweichungen von der alten Literatur als Verfallsform
Für den Hirnforscher Manfred Spitzer sind solche Thesen empörend. “Sollen wir also Goethe und Schiller, Shakespeare und Hemingway durch virtuelle Kriegsspiele ersetzen?”, fragt er in seinem Buch und antwortet: Wer das tut, kannibalisiert nicht nur die Vergangenheit. Auch treibt man Raubbau an der Zukunft.
Als wirkliche Opfer des virtuellen Krieges sieht er die jungen Menschen, die man vor den Bildschirm setzt. Denn “wenn Sie wirklich wollen, dass Ihr Kind in der Schule schlechtere Leistungen erbringt und sich künftig weniger um Sie und ihre Freunde kümmert [...], dann schenken sie ihm doch eine Spielkonsole! Sie leisten damit zugleich einen Beitrag zu mehr Gewalt in der realen Welt.”
Damit führt Spitzer exemplarisch das Problem vor, das sich für die nächste Literatur ergibt. Denn im Programm der etablierten Bildungsinstitutionen und der dazugehörigen Kulturverwaltung sind Abweichungen von dem, was seit 1800 als literarische Bildung gilt, nicht vorgesehen. Varianten lassen sich allenfalls als Verfallsform beschreiben. Wo sich sogar ganz neue Formen des Umgangs mit Lesen und Schreiben entwickeln, die sich nicht mehr an den alten Vorgaben orientieren, lassen sie sich nicht mal als Teil der literarischen Bildung erkennen. An Goethe, Schiller, Shakespeare und Hemingway gemessen, ist alles andere: nichts. Oder Quatsch.
An World of Warcraft können die Traditionalisten – wenn sie sich überhaupt dazu hinreißen lassen, das Spiel selbst zu erkunden – gerade noch wahrnehmen, dass dort auch gelesen und geschrieben wird. Für die paradigmatischen Verschiebungen des Schreibens und Lesens aber bleiben sie blind. Was bleibt, ist der kulturkritische Reflex. Das alte, rund um Bücher organisierte Lesen und Schreiben tut gut. Liest und schreibt man aber am Computer, hat es schlimme Folgen.
The Clash of Cultures
Der Hirnforscher und die Erziehungswissenschaftlerin markieren damit den Bruch zwischen der alten und der nächsten Kultur. Er könnte tiefer nicht sein. Folgenreicher wohl auch nicht. Für die nächsten Kompetenzen, von denen Steinkuehler behauptet, dass sie sich rund um die neuen Schreib-, Publikations- und Leseformen entwickeln, bedeutet dieser Bruch: Sie werden bis auf Weiteres ohne die Unterstützung durch die etablierten Bildungsinstitutionen zurechtkommen müssen. Sie wird mit dem Widerstand der traditionsorientierten Kulturverwalter rechnen müssen. Und so wird es für sie keine Förderung geben, keine Curricula, keine Stipendien, keine Preise, keine Programme, die dazu einladen, produktiv mit den Bedingungen und Möglichkeiten der nächsten Kultur umzugehen.
- Die Schulen und die Universitäten werden weiter dicht am Kanon bleiben, um die Vergangenheit als Quelle individueller und kultureller Erquickung zu beschwören.
- Die Literaturhäuser werden weiter nur Romanautoren und Lyriker einladen, die im Anschluss an die Lesung ihre Bücher signieren.
- Die Kommissionen und Jurys werden literarische Projekte fördern, an deren Ende möglichst dicke Bücher stehen.
- Literaturpreise werden an Autoren vergeben, die sich mit ihrem ganzen Werk dem Papier verschrieben haben und darauf womöglich in eigens errichteten Schreibschulen trainiert worden sind.
- Die Literaturkritik wird ausschließlich diese Texte besprechen, die dann von Buchlesern als eigentliche Literatur im Buchhandel nachgefragt werden.
Und alles, was jenseits davon passiert, wird alles andere sein – nur keine Literatur.
Abwehrgefechte der Buchkultur
So steht uns eine eigenartige Entwicklung bevor. Folgt man den Hinweisen, die durch Studien zur Veränderung des Leseverhaltens, zur Verschiebung der Mediennutzung und zur Auflösung der Mittelschicht als dem Ort gegeben werden, an dem der Umgang mit Büchern noch identitätsstiftend gewirkt hat, dann ergibt sich folgendes Bild: Was sich einst rundherum um die klassische Idee der literarischen Bildung als literarische Öffentlichkeit organisiert und dabei zugleich als überzeitliche Grundform der conditio humana ausgibt, schmilzt langsam aber sicher zusammen. Reagiert wird darauf mit einer dreifachen Abwehrstrategie.
- Erstens zieht man sich immer weiter zurück, igelt sich ein und stellt um auf die reine Selbsteferentalität des buchorientierten Literaturbetriebs.
- Zweitens wird versucht, zu ignorieren oder zu leugnen, was jenseits der eigenen Befestigungen passiert.
- Und wo man es weder ignorieren noch leugnen kann, will man drittens dann eben nichts weiter als minderwertige Artefakte der Kulturindustrie sehen, deren Agenten die Nutzer, wie Manfred Spitzer sagt, bloß “anfixen” wollen.
Das pralle literarische Leben
Unter diesen Bedingungen wird sich die nächste Literatur jenseits der Literatur etablieren. Die nächste literarische Bildung wird eine sein, die jenseits der literarischen Bildung stattfindet, die immer noch innerhalb der Befestigungen der alten Literaturkultur gepflegt wird.
Folglich werden alle, die mit der nächsten Literatur zu tun haben, ganz und gar literaturfremde Strukturen nutzen müssen, mit denen das Nächste noch in seinen abstrusesten Formen als etwas wahrgenommen werden kann, das lebendig genug ist, überraschend genug ist, produktiv genug ist, kreativ genug ist, interessant genug ist, um beachtet, gefördert, diskutiert und weiter entwickelt zu werden.
Und während dann hier draußen das pralle Leben tobt und immer neue Formen und Formate entstehen, wird ein Hirnforscher durch die Schießscharten schauen, die in den Befestigungsmauern der alten literarischen Kultur frei gelassen worden sind. Und er wird meinen, da draußen sei Krieg. Aber das stimmt gar nicht. Da wird nur World of Warcraft gespielt, um literarische Texte herzustellen, wie sie die Welt bislang noch nicht gesehen hat.
Erst kürzlich habe ich in der Bella Triste die literarischen Instanzen des Computerspiels geraidet. Hier droppe ich einen Teaser: http://christianhuberts.blogspot.de/2012/07/digital-games-love-story-zum-verhaltnis.html.
Martin Lindner zu Spitzers Buch auf Carta:
“Das Buch ist nicht ernst zu nehmen. Aber es hat keinen Sinn, sich über Spitzers Talkshow-Triumphzug lustig zu machen. Alle, die dazu lustig twittern, sollten sich an die eigene Nase fassen: Wir sind nämlich selber schuld.
Warum haben wir, die Web 2.0-Fraktion, diese Leerstelle gelassen, in die er sich jetzt so begeistert wirft? Warum kann ein ernsthaft besorgter Mensch sich kein Buch kaufen, in dem wir uns vernünftige Gedanken über all das machen: Werden Jugendliche, die (auch digitale) Schriftkultur nicht können, jetzt vollends abgehängt? Was machen faschistoide Ich-ballere-alles-ab-Stirb-langsam-Spiele und Überall-Porno in den Köpfen? Auch die Frage, was mit dem Selberschreiben wird, ist nicht von vornherein lächerlich.
Der Punkt ist nur: Das alles gibt es sowieso. Die Jugendlichen sind bereits im Netz und vor den Geräten, und gerade die potenziell Gefährdeten werden wir am wenigsten dran hindern können. Daran ist ganz sicher nicht die Schule schuld, oder wohlmeinende Eltern, weil sie ihre Kinder mit zum Lernen gedachten digitalen Geräten “anfixen”.
Nicht weniger Medien sind das Gegenmittel sind, sondern mehr, und anders: als Werkzeug der Selbstermächtigung, in einer Welt, die sich rasend schnell verändert. Da hilft nicht Nostalgie, kein Verbot, auch nicht medienpädagogisches Darüberreden, da hilft nur: vormachen.”
http://carta.info/47569/zwischenbilanz-zu-spitzers-digitaledemenz/
viel material und links gibt es auch hier: http://gibro.de/studiengegenspitzer